In einer kleinen Stad
vor wie eine Frau, die Gespenster sieht. Nicht alle Leute glauben an Gespenster, aber ich tue es. Weißt du, was Gespenster sind, Trisha?«
Sie hatte langsam den Kopf geschüttet.
»Männer und Frauen, die nicht über die Vergangenheit hinwegkommen«, sagte Tante Evvie. » Das sind die wahren Gespenster. Nicht sie .« Sie schwenkte den Arm in Richtung auf den Sarg, der auf seinen Bohlen neben dem frischen Grab stand. »Die Toten sind tot. Wir begraben sie, und sie bleiben begraben.«
»Ich fühle...«
»Ja«, sagte Tante Ewie. »Ich weiß, daß du das tust. Aber sie tun es nicht. Deine Mutter und mein Neffe tun es nicht. Auch der Junge, der gestorben ist, als du nicht da warst, tut es nicht. Verstehst du?«
Sie hatte verstanden. Jedenfalls ein wenig.
»Du hast recht, wenn du nicht hierbleiben willst, Trisha – jedenfalls fürs erste. Geh dahin, wo du hergekommen bist. Oder sonstwohin – Salt Lake City, Honolulu, Bagdad, wohin du willst. Es spielt keine Rolle, denn früher oder später wirst du hierher zurückkehren. Ich weiß es; dieser Ort gehört zu dir, und du gehörst zu ihm. Das steht in jeder Linie deines Gesichts geschrieben, in deiner Art zu gehen, zu reden, sogar in deiner Art, die Augen zusammenzukneifen, wenn du jemanden ansiehst, der dir fremd ist. Castle Rock ist für dich geschaffen, und du bist es für Castle Rock. Deshalb eilt es nicht. >Tu, wonach dein Herz gelüstet<, wie es in der Bibel heißt. Aber tue es als lebendiger Mensch, Trisha. Sei kein Gespenst. Wenn du dich in eines verwandelst, wäre es vielleicht besser, wenn du für immer fortbleiben würdest.«
Die alte Frau sah sich nachdenklich um, stieß dann ihren Stock vor sich in den Boden.
»In dieser verdammten Stadt gibt es ohnehin schon zu viele Gespenster«, sagte sie.
»Ich werde es versuchen, Tante Ewie.«
»Ja – ich weiß, daß du das tun wirst. Das Versuchen – das steckt auch in dir drin.« Tante Ewie musterte sie eingehend. »Du warst ein gutes Kind und ein vielversprechendes Kind, aber ein glückliches Kind bist du nie gewesen. Nun, Glück ist etwas für Narren. Es ist alles, worauf sie hoffen können, die armen Teufel. Ich habe den Eindruck, daß du immer noch vielversprechend und gut bist, und darauf kommt es an. Ich glaube, du wirst es schaffen.« Und dann unvermittelt, fast arrogant: »Ich liebe dich, Polly Chalmers. Habe es immer getan.«
»Ich liebe dich auch, Tante Ewie.«
Und dann umarmten sie sich auf die behutsame Art, auf die Alte und Junge ihre Zuneigung demonstrieren. Polly hatte das alte Aroma von Tante Ewies Sachet gerochen – einen Hauch von Veilchen -, und das hatte sie wieder zum Weinen gebracht.
Als sie zurücktrat, griff Tante Ewie in ihre Manteltasche. Polly wartete darauf, daß sie ein Taschentuch hervorholte, dachte verwundert, daß sie nun endlich, nach all den langen Jahren, sehen würde, daß die alte Frau weinte. Doch anstelle eines Taschentuchs brachte Tante Ewie ein einzelnes, eingewickeltes Bonbon zum Vorschein, genau wie damals, als Polly Chalmers noch ein kleines Mädchen mit Zöpfen war, die über das Vorderteil ihrer Matrosenbluse herabhingen.
»Möchtest du ein Bonbon, Liebes?« hatte sie fröhlich gefragt.
13
Die Dämmerung hatte angefangen, sich in den Tag einzuschleichen.
Polly richtete sich in ihrem Schaukelstuhl auf; ihr wurde bewußt, daß sie fast eingeschlafen war. Sie stieß mit einer ihrer Hände an, und ein harter Bolzen aus Schmerz schoß in ihrem Arm hoch; dann setzte dieses ominöse heiße Kribbeln wieder ein. Es würde schlimm werden, kein Zweifel. Später am Abend oder morgen, es würde ganz bestimmt sehr schlimm werden.
Mach dir keine Gedanken über das, was du nicht ändern kannst, Polly – es gibt zumindest eines, was du ändern kannst, ändern mußt. Du mußt Alan über Kelton die Wahrheit sagen. Du mußt aufhören, dieses Gespenst in deinem Herzen mit dir herumzutragen.
Doch dann meldete sich eine andere Stimme zu Wort – eine zornige, verängstigte, nicht zu überhörende Stimme. Die Stimme des Stolzes, nahm sie an, sonst nichts, aber sie war entsetzt über die Stärke und Dringlichkeit, mit der sie verlangte, daß diese alten Zeiten, dieses alte Leben nicht exhumiert wurden – nicht für Alan, nicht für irgend jemanden sonst. Und daß vor allem das kurze Leben und der erbärmliche Tod ihres Kindes auf keinen Fall den scharfen Klatschzungen der Stadt ausgeliefert werden durften.
Was ist das für ein Unsinn , Trisha? fragte Tante Evvie in ihren
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