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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und das Nichtverheimlichen solcher Dinge einfach ein Teil seines Wesens waren. Sie fürchtete sich vor dem, was er denken mochte, wenn er feststellte, daß Fair Play nicht immer ein Teil ihres Wesens war; daß ein früher Frost nicht nur ihre Hände, sondern auch ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen hatte.
    Sie bewegte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl.
    Ich muß es ihm erzählen – früher oder später muß ich es tun. Und nichts von alledem erklärt, weshalb es so schwer ist; nichts von alledem erklärt auch nur, warum ich ihn überhaupt angelogen habe. Schließlich ist es ja nicht so, daß ich meinen Sohn umgebracht hätte...
    Sie seufzte – ein Laut, der fast ein Schluchzen war – und bewegte sich auf ihrem Stuhl. Sie hielt nach den Jungen mit dem Fußball Ausschau, aber sie waren fort. Dann lehnte sie sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und schloß die Augen.

12
     
    Sie war nicht das erste Mädchen, das nach einer nächtlichen Rangelei schwanger geworden war, und auch nicht das erste, das danach einen bitteren Streit mit den Eltern und anderen Verwandten gehabt hatte. Sie hatten gewollt, daß sie Paul »Duke« Sheehan heiratete, den Mann, der sie geschwängert hatte. Sie hatte gesagt, sie würde Duke nicht heiraten, und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Das stimmte zwar, aber ihr Stolz verbot ihr, ihnen zu erzählen, daß es Duke war, der sie nicht heiraten wollte – seine engsten Freunde hatten ihr berichtet, daß er bereits in heller Panik Vorbereitungen traf, um in die Marine eintreten zu können, sobald er achtzehn geworden war – was in knapp sechs Wochen der Fall sein würde.
    »Damit ich klar sehe«, hatte Newton Chalmers gesagt und damit die letzte, schwächliche Brücke zwischen sich und seiner Tochter weggerissen. »Er war gut genug, dich zu schwängern, aber er ist nicht gut genug zum Heiraten – trifft das so ungefähr zu?«
    Da hatte sie versucht, aus dem Haus zu laufen, aber ihre Mutter hatte sie erwischt. Wenn sie den Jungen nicht heiraten wollte, hatte Lorraine Chalmers gesagt, mit ihrer gelassenen und aufreizend verständnisvollen Stimme, die Polly als Teenager fast zum Wahnsinn getrieben hatte, dann mußten sie sie zu Tante Sarah in Minnesota schicken. Sie konnte in Saint Cloud bleiben, bis das Kind geboren war, und es dann zur Adoption freigeben.
    »Ich weiß, warum ihr wollt, daß ich verschwinde«, sagte Polly. »Es ist Großtante Evelyn, nicht wahr? Ihr habt Angst, wenn sie erfährt, daß ich ein Brötchen im Ofen habe, dann enterbt sie euch. Es geht ums Geld, nicht wahr? Ich bin euch völlig egal. Ihr kümmert euch keinen Scheißdreck um...«
    Lorraine Chalmers aufreizend verständnisvolle Stimme hatte immer ein aufbrausendes Temperament verschleiert. Und auch sie hatte die letzte, schwächliche Brücke zwischen sich und ihrer Tochter weggerissen – indem sie Polly einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzte.
    Also war Polly davongelaufen. Das war sehr, sehr lange her – im Juli des Jahres 1970.
    Sie landete in Denver und arbeitete dort, bis das Baby in einer Wohlfahrtsinstitution geboren war, die die Patienten Needle Park nannten. Sie hatte durchaus vorgehabt, das Kind zur Adoption freizugeben, aber irgend etwas – vielleicht nur die Art, wie es sich anfühlte, als die Hebamme es ihr nach der Entbindung in die Arme legte – hatte sie anderen Sinnes werden lassen.
    Sie nannte den Jungen Kelton, nach ihrem Großvater mütterlicherseits. Der Entschluß, ihn zu behalten, hatte sie ein wenig geängstigt, weil sie sich gern als praktisches, vernünftiges Mädchen sah, und nichts, was ihr im Laufe des letzten Jahres widerfahren war, ließ sich mit diesem Bild vereinbaren. Zuerst war das praktische, vernünftige Mädchen unverheiratet schwanger geworden zu einer Zeit, in der praktische, vernünftige Mädchen so etwas einfach nicht taten. Dann war das praktische, vernünftige Mädchen von zu Hause fortgelaufen und hatte sein Kind in einer Stadt zur Welt gebracht, in der es nie zuvor gewesen war und über die es nichts wußte. Und um alledem die Krone aufzusetzen, hatte das praktische, vernünftige Mädchen beschlossen, das Kind zu behalten und mitzunehmen in eine Zukunft, die es nicht sehen, nicht einmal ahnen konnte.
    Zumindest hatte sie den Jungen nicht aus Trotz behalten; das konnte ihr niemand nachsagen. Sie mußte feststellen, daß sie überrascht worden war von Liebe, dem simpelsten, stärksten und unverzeihlichsten aller Gefühle.
    Sie war weitergezogen. Nein – sie beide

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