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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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waren weitergezogen. Sie hatte eine Reihe von Jobs gehabt, hatte niedrige Arbeiten verrichtet, und sie waren in San Francisco gelandet, wohin es sie von Anfang an gezogen hatte. In diesem Frühsommer des Jahres 1971 war die Stadt eine Art Hippie-Paradies, ein hügeliger Drogenladen voller Freaks und Komiker und Ausgeflippter und Bands mit Namen wie Moby Grape und Thirteenth Floor Elevators.
    Dem Scott McKenzie-Song über San Francisco zufolge, der in einem dieser Jahre ein Hit gewesen war, war der Sommer dort die Zeit der Love-ins. Polly Chalmers, die selbst damals nicht das war, was man sich gemeinhin unter einem Hippie vorstellte, hatte die Love-ins irgendwie verpaßt. Das Haus, in dem sie mit Kelton wohnte, war voll von aufgebrochenen Briefkästen und Männern, die an der Nadel hingen, das Friedenszeichen um den Hals trugen, aber meistens Schnappmesser in ihren schmutzigen und abgetragenen Motorradstiefeln stecken hatten. Die häufigsten Besucher in diesem Viertel waren Gerichtsdiener, Schuldeneintreiber und Polizisten. Eine Menge Polizisten, und es empfahl sich nicht, sie Bullen zu nennen, solange sie in Hörweite waren; die Polizisten hatten gleichfalls die Love-ins verpaßt und waren deshalb stocksauer.
    Polly stellte einen Antrag auf Fürsorge und mußte erfahren, daß sie noch nicht lange genug in Kalifornien lebte, um einen Anspruch darauf zu haben – heute lagen die Dinge vermutlich anders, aber damals, 1971, war es für eine unverheiratete junge Mutter in San Francisco ebenso schwer, über die Runden zu kommen, wie anderswo auch. Sie beantragte Unterstützung für unmündige Kinder und wartete – hoffte -, daß irgend etwas dabei herauskäme. Kelton brauchte nie zu hungern, aber sie selbst lebte von der Hand in den Mund, eine magere junge Frau, die oft hungrig war und oft Angst hatte, eine junge Frau, die nur wenige Leute, die sie heute kannten, wiedererkannt hätten. Ihre Erinnerungen an jene drei ersten Jahre an der Westküste, Erinnerungen, die im Hintergrund ihres Bewußtseins verstaut waren wie alte Kleidungsstücke auf dem Dachboden, waren verzerrt und grotesk, Erinnerungen aus einem Alptraum.
    Und war das nicht der eigentliche Grund ihres Widerstrebens, Alan von diesen Jahren zu erzählen? Wünschte sie sich nicht einfach, sie im dunkeln zu lassen? Sie war nicht die einzige gewesen, die unter den alptraumhaften Konsequenzen ihres Stolzes gelitten hatte, ihrer hartnäckigen Ablehnung jeder Bitte um Hilfe der bösartigen Heuchelei jener Zeit, die den Triumph der freien Liebe verkündete, aber gleichzeitig unverheiratete Mütter als Geschöpfe betrachtete, die unterhalb der Schranken der normalen Gesellschaft standen; außerdem war Kelton dagewesen. Kelton war das Unterpfand ihres Glückes gewesen, während sie wütend auf dem Pfad ihres erbärmlichen und törichten Kreuzzuges dahinstapfte.
    Das Fürchterliche war, daß ihre Lage sich allmählich besserte. Im Frühjahr 1972 stand ihr endlich Fürsorgeunterstützung zu, der erste Scheck der Kinderhilfe war ihr für den kommenden Monat versprochen worden, und sie hatte bereits Pläne gemacht, in ein etwas besseres Viertel umzuziehen, als das Feuer ausbrach.
    Der Anruf hatte sie in dem Schnellimbiß erreicht, in dem sie arbeitete, und in ihren Träumen drehte sich Norville, der Koch, der damals immer versucht hatte, sie dazu zu bringen, mit ihm ins Bett zu gehen, wieder und wieder zu ihr um und streckte ihr das Telefon entgegen. Und er sprach immer wieder dieselben Worte: Polly, es ist die Polizei. Sie möchte mit dir reden. Polly, es ist die Polizei. Sie möchte mit dir reden.
    Sie wollte in der Tat mir ihr reden, weil sie die Leichen einer jungen Frau und eines kleinen Jungen aus dem verräucherten dritten Stock des Mietshauses herausgeholt hatten. Beide waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie wußten, wer das Kind war; wenn Polly nicht zur Arbeit gegangen war, würden sie auch wissen, wer die Frau war.
    Nach Keltons Tod war sie drei Monate lang weiter zur Arbeit gegangen. Ihre Einsamkeit lastete so schwer auf ihr, daß sie sie halb verrückt machte; sie ging so tief und war so allumfassend, daß ihr nicht einmal bewußt wurde, wie sehr sie litt. Dann endlich hatte sie nach Hause geschrieben, ihrer Mutter und ihrem Vater aber nur mitgeteilt, daß sie in San Francisco war, daß sie einen Jungen zur Welt gebracht hatte und daß dieser Junge nicht mehr bei ihr war. Selbst wenn man sie mit glühenden Schürhaken bedroht hätte, hätte sie nicht mehr

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