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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Einzelheiten preisgegeben. Nach Hause zurückzukehren war damals nicht Bestandteil ihrer Pläne – zumindest nicht ihrer bewußten Pläne -, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, daß, wenn sie nicht einige der alten Bande wieder anknüpfte, ein wertvoller innerer Teil von ihr Stückchen um Stückchen aussterben würde, ungefähr so, wie ein kraftvoller Baum von den Ästen ausgehend nach innen zu abstirbt, wenn er zu lange kein Wasser bekommt.
    Ihre Mutter hatte sofort geschrieben, an das Postfach, das Polly als Absenderadresse angegeben hatte, und sie aufgefordert, nach Castle Rock zurückzukehren – nach Hause zu kommen. Sie legte eine Anweisung über siebenhundert Dollar bei. Es war sehr heiß in der Wohnung, in der Polly seit Keltons Tod lebte, und sie hatte das Packen ihrer Koffer unterbrochen, um sich ein Glas kaltes Wasser zu holen. Während sie es trank, wurde ihr bewußt, daß sie nur deshalb Anstalten traf, nach Hause zurückzukehren, weil ihre Mutter sie aufgefordert – beinahe angefleht – hatte, es zu tun. Sie hatte im Grunde gar nicht richtig darüber nachgedacht, und das war zweifellos ein Fehler. Es war diese Art, erst zu überlegen und dann zu handeln, und nicht Duke Sheehans bescheidener Pimmel, mit der ihre Probleme angefangen hatten.
    Also setzte sie sich auf ihr schmales Einzelbett und überlegte. Sie dachte lange und angestrengt nach. Schließlich entwertete sie die Geldanweisung und schrieb einen Brief an ihre Mutter. Er war nicht einmal eine Seite lang, aber sie hatte fast vier Stunden gebraucht, um ihn zu Papier zu bringen.
    Ich möchte zurückkommen oder zumindest ausprobieren, ob ich es kann, aber ich will nicht, daß wir all die alten Knochen wieder ausgraben und darauf herumkauen, wenn ich es tue, hatte sie geschrieben. Ich weiß nicht, ob das, was ich im Grunde will – ein neues Leben anfangen an einem alten Ort -, überhaupt möglich ist, aber ich will es versuchen. Deshalb ist mir eine Idee gekommen: beschränken wir uns fürs erste aufs Briefeschreiben. Du und ich, und ich und Dad. Mir ist aufgefallen, daß es schwerer ist, auf Papier wütend und nachtragend zu sein, also wollen wir uns eine Weile auf diese Art unterhalten, bevor wir es von Angesicht zu Angesicht tun.
    Fast sechs Monate lang hatten sie sich auf diese Art unterhalten, und dann hatten eines Tages im Januar 1973 Mr. und Mrs. Chalmers vor ihrer Tür gestanden, mit Tüten in der Hand. Sie wären im Mark Hopkins Hotel abgestiegen, sagten sie, und sie würden nicht ohne sie nach Castle Rock zurückkehren.
    Polly hatte darüber nachgedacht und ein ganzes Universum von Gefühlen durchlebt: Verärgerung darüber, daß sie so anmaßend sein konnten, wehmütige Belustigung über den liebenswerten naiven Charakter dieser Anmaßung, Panik, daß die Fragen, denen sie in ihren Briefen so geschickt ausgewichen war, jetzt beantwortet werden müßten.
    Sie hatte versprochen, mit ihnen essen zu gehen, mehr nicht – andere Entschlüsse würden warten müssen. Ihr Vater teilte ihr mit, daß er das Zimmer im Mark Hopkins nur für eine einzige Nacht gemietet hatte. Dann tätest du gut daran, es noch für ein paar weitere Nächte reservieren zu lassen, hatte Polly gesagt.
    Ihr hatte daran gelegen, so viel wie möglich mit ihnen zu reden, bevor sie einen endgültigen Entschluß faßte – eine persönlichere Form des Abtastens, das bisher nur brieflich stattgefunden hatte. Es war der letzte Abend, an dem sie ihren Vater gesund und bei Kräften gesehen hatte, und sie hatte den größten Teil davon in heller Wut über ihn verbracht.
    Die alten Streitigkeiten, in Briefen so leicht zu vermeiden, hatten bereits begonnen, bevor die Gläser mit dem vor dem Essen servierten Wein geleert worden waren. Anfangs waren es nur kleine Grasbrände, aber als ihr Vater weitertrank, entwickelten sie sich zu einer unkontrollierbaren Feuerwand. Er hatte den Funken geschlagen, indem er sagte, sie hätten beide das Gefühl, Polly hätte ihre Lektion gelernt, und es wäre an der Zeit, das Kriegsbeil zu begraben. Mrs. Chalmers hatte die Flammen angefacht, indem sie mit ihrer gelassenen, aufreizend verständnisvollen Stimme fragte: Wo ist das Kind, meine Liebe? Das zumindest könntest du uns sagen. Ich nehme an, du hast es den Schwestern übergeben.
    Polly kannte diese Stimmen und wußte aus längst vergangenen Zeiten, was sie bedeuteten. Die ihres Vaters verriet seinen Drang, die Kontrolle zurückzugewinnen; Kontrolle mußte sein, koste es, was es wolle. Die

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