Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Grunde nur eine einzige Braue; sie war buschig und erstreckte sich oberhalb des Nasenansatzes in einer ununterbrochenen doppelten Wellenlinie.
    »Nun, ich bin ziemlich ungeschickt.«
    »Unsinn«, erwiderte Mr. Gaunt. »Ich erkenne ungeschickte Jungen, wenn ich sie vor mir sehe. Du gehörst nicht zu dieser Sorte.«
    Er ließ den Splitter in Brians Handfläche fallen. Brian betrachtete ihn ziemlich überrascht; er war sich nicht einmal bewußt gewesen, daß er die Hand geöffnet hatte, bis er jetzt den Splitter dort liegen sah.
    Aber er fühlte sich überhaupt nicht an wie ein Splitter; er fühlte sich eher an wie...
    »Er fühlt sich an wie Stein«, sagte er zweifelnd und hob den Blick, um Mr. Gaunt anzusehen.
    »Sowohl Holz als auch Stein«, sagte Mr. Gaunt. »Das Holz ist versteinert.«
    »Versteinert«, staunte Brian. Er betrachtete den Splitter genauer, dann fuhr er mit einem Finger daran entlang. Er war glatt und höckerig zugleich. Irgendwie war es ein nicht völlig angenehmes Gefühl. »Er muß sehr alt sein.«
    »Mehr als zweitausend Jahre«, pflichtete Mr. Gaunt ihm ernsthaft bei.
    »Donnerwetter!« sagte Brian. Er fuhr zusammen und hätte beinahe den Splitter fallen gelassen. Er schloß seine Hand um ihn herum zur Faust, damit er nicht auf den Boden fallen konnte – und ganz plötzlich überkam ihn ein ganz merkwürdiges, verzerrendes Gefühl. Plötzlich fühlte er sich – wie? Schwindelig? Nein; nicht schwindelig, aber weit weg. Als ob ein Teil von ihm aus seinen Körper herausgehoben und davongefegt worden wäre.
    Er konnte sehen, wie Mr. Gaunt ihn interessiert und belustigt musterte, und Mr. Gaunts Augen schienen plötzlich so groß zu werden wie Untertassen. Dennoch war dieses Gefühl der Desorientierung nicht beängstigend; es war eher aufregend und bestimmt angenehmer, als das glatte Holz sich unter seinen erkundenden Fingern anfühlte.
    »Schließ deine Augen, Brian«, forderte Mr. Gaunt ihn auf. »Schließ deine Augen, Brian, und sage mir, was du fühlst.«
    Brian machte die Augen zu und stand einen Moment lang da, ohne sich zu bewegen; sein rechter Arm war ausgestreckt, die Faust umschloß den Splitter. Er sah nicht, wie sich Mr. Gaunts Oberlippe einen Augenblick lang über die langen, krummen Zähne hob wie die eines Hundes und sein Gesicht zu etwas machte, das eine Grimasse des Vergnügens oder der Vorfreude sein mochte. Er hatte das vage Gefühl von Bewegung – einer korkenzieherähnlichen Art von Bewegung. Ein Geräusch, schnell und leicht; patschpatsch ... patschpatsch ... patschpatsch. Dieses Geräusch kannte er. Es war...
    »Ein Schiff!« rief er entzückt, ohne die Augen zu öffnen. »Ich habe das Gefühl, auf einem Schiff zu sein!«
    »Ach, wirklich?« sagte Mr. Gaunt, und für Brian hörte es sich an, als wäre es unvorstellbar weit weg.
    Das Gefühl wurde stärker; jetzt war ihm, als ginge es auf und ab, quer über lange, träge Wellen. Er konnte die fernen Schreie von Vögeln hören, und – mehr in der Nähe – die Laute vieler Tiere; Kühe muhten, Hähne krähten, das tiefe Fauchen einer sehr großen Katze – kein Anzeichen von Wut, sondern ein Ausdruck der Langeweile. In diesem Augenblick konnte er beinahe Holz (das Holz, von dem, da war er ganz sicher, dieser Splitter stammte) unter seinen Füßen fühlen, und er wußte, daß er an diesen Füßen keine Converse-Turnschuhe trug, sondern nur Sandalen, und...
    Dann verschwand es, schrumpfte zu einem winzigen, hellen Punkt wie das Bild auf dem Fernsehschirm, wenn der Strom ausfällt, und dann war es fort. Er öffnete die Augen, erschüttert und hingerissen.
    Seine Hand hatte sich um den Splitter herum zu einer so festen Faust geballt, daß es ihn eine bewußte Willensanstrengung kostete, sie wieder zu öffnen, und die Fingergelenke knarrten wie rostige Scharniere.
    »Junge, Junge«, sagte er leise.
    »Schön, nicht wahr?« fragte Mr. Gaunt vergnügt und zog den Splitter aus Brians Hand mit der geistesabwesenden Geschicklichkeit eines Arztes, der einen Splitter aus Fleisch zieht. Er legte ihn wieder an seinen Platz und schloß mit einer schwungvollen Bewegung die Vitrine ab. »Schön«, pflichtete Brian ihm bei, und das Entweichen seines angehaltenen Atems war fast ein Seufzer. Er bückte sich, um den Splitter zu betrachten. Die Hand, in der er ihn gehalten hatte, kribbelte noch immer ein bißchen. Diese Gefühle; das Aufwärts- und Abwärtskippen des Decks, das Anplätschern der Wellen gegen den Rumpf, der Eindruck von Holz unter

Weitere Kostenlose Bücher