In einer kleinen Stad
seiner Wettleidenschaft – sie glaubte tatsächlich, er ginge nur zur Rennbahn, um zuzuschauen. Sie wußte auch nichts von der Veruntreuung. Sie wußte, daß mehrere Angehörige der Keeton-Familie psychisch instabil gewesen waren, aber das hatte für sie nichts mit Danforth zu tun. Er trank nicht übermäßig, vergaß nicht, sich anzuziehen, bevor er am Morgen das Haus verließ, redete nicht mit Leuten, die nicht da waren, und deshalb nahm sie an, mit ihm wäre alles in Ordnung. Mit anderen Worten: sie nahm an, daß mit ihr selbst etwas nicht in Ordnung war, und daß dieses Etwas Danforth irgendwann veranlaßt hatte, sie nicht mehr zu lieben.
Sie hatte ungefähr die letzten sechs Monate damit verbracht, sich an die düstere Aussicht von dreißig oder sogar vierzig lieblosen Jahren zu gewöhnen, die ihr an der Seite dieses Mannes bevorstanden – dieses Mannes, der abwechselnd wütend auf sie war, sie mit kaltem Sarkasmus überschüttete oder sie überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Soweit es Danforth anging, war sie nur ein Möbelstück – es sei denn, natürlich, daß er etwas an ihr auszusetzen hatte. Wenn das der Fall war – wenn das Abendessen nicht auf dem Tisch stand, wenn er es haben wollte, wenn ihm der Fußboden in seinem Arbeitszimmer schmutzig vorkam, sogar wenn die Teile der Zeitung, die er zum Frühstück las, in der falschen Reihenfolge lagen -, dann nannte er sie dämlich. Erklärte ihr, wenn sie ihren Arsch verlöre, wüßte sie nicht, wo sie danach suchen sollte. Sagte, wenn Gehirn Schwarzpulver wäre, wäre sie nicht imstande, sich ohne Sprengkapsel die Nase zu putzen. Anfangs hatte sie versucht, sich gegen diese Tiraden zur Wehr zu setzen, aber er hieb ihre Verteidigung in Stücke, als handelte es sich um die Mauern einer Kinderburg aus Pappe. Wenn sie ihrerseits zornig wurde, dann übertraf er sie mit weißglühender Wut, die ihr Angst einjagte. Also hatte sie es aufgegeben, zornig zu werden, und war statt dessen in Tiefen der Bestürzung versunken. Neuerdings lächelte sie nur hilflos angesichts seiner Wut, versprach Besserung und ging in ihr Schlafzimmer, wo sie auf dem Bett lag und weinte und sich fragte, was aus ihr noch werden sollte. Sie wünschte sich, sie hätte eine Freundin, mit der sie reden konnte.
Statt dessen redete sie mit ihren Puppen. Sie hatte in den ersten Ehejahren angefangen, Puppen zu sammeln, und sie hatten immer in Schachteln auf dem Dachboden gelegen. Aber im Laufe des letzten Jahres hatte sie sie heruntergeholt ins Nähzimmer, und manchmal schlich sie, nachdem sie ihre Tränen vergossen hatte, ins Nähzimmer und spielte mit ihnen. Sie brüllten sie nie an. Sie ignorierten sie nie. Sie fragten sie nie, wie es kam, daß sie so dämlich war, ob von Natur aus, oder ob sie Unterricht nähme.
Die allerschönste Puppe von allen hatte sie gestern gefunden, in dem neuen Laden.
Und heute hatte sich alles geändert.
Heute morgen, um genau zu sein.
Ihre Hand kroch unter den Tisch, und sie zwickte sich (nicht zum ersten Mal), nur um sich zu vergewissern, daß sie nicht träumte. Aber nach dem Zwicken war sie noch immer hier bei Maurice, saß in einem Strahl hellen Oktobersonnenscheins, und Danforth war nach wie vor da, an der anderen Seite des Tisches, aß mit herzhaftem, gutem Appetit, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das ihr fast fremdartig vorkam, weil sie dort seit so langer Zeit kein Lächeln mehr gesehen hatte.
Sie wußte nicht, was die Veränderung bewirkt hatte, und getraute sich nicht, ihn zu fragen. Sie wußte, daß er gestern abend zur Rennbahn in Lewiston gefahren war, genau wie fast jeden Abend (vermutlich deshalb, weil die Leute, die er dort traf, interessanter waren als die Leute, die er jeden Tag in Castle Rock traf – seine Frau zum Beispiel), und als sie heute morgen aufgewacht war, rechnete sie damit, seine Hälfte des Bettes leer vorzufinden (oder völlig unbenutzt, was bedeuten würde, daß er die Nacht in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte) und zu hören, wie er unten auf seine übellaunige Art vor sich hinmurmelte.
Statt dessen hatte er im Bett neben ihr gelegen und den rot gestreiften Pyjama angehabt, den sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Dies war das erste Mal, daß er ihn trug – so weit sie wußte, sogar das erste Mal, daß er ihn aus der Schachtel herausgeholt hatte. Er war wach. Er drehte sich auf die Seite, um sie anzusehen, bereits lächelnd. Anfangs hatte das Lächeln sie geängstigt. Sie dachte, es könnte bedeuten,
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