In einer kleinen Stad
– es war wie ein Blick hinter die Kulissen zweier wirklicher Menschenleben. Sie fing damit an, daß sie ins Obergeschoß ging und in sämtliche Zimmer schaute. Es waren eine ganze Menge Zimmer, zumal wenn man bedachte, daß keine Kinder da waren, aber, wie ihre Mutter immer gesagt hatte, wo Täubchen sind, da fliegen Täubchen zu.
Sie öffnete Myrtles Kommodenschubladen, untersuchte ihre Unterwäsche. Einiges davon war aus Seide, teures Zeug, aber Nettie fand, daß die meisten der guten Sachen alt aussahen. Dasselbe galt für die Kleider, die in ihrer Seite des Schrankes hingen. Nettie wanderte weiter ins Badezimmer, wo sie das Inventar der in der Hausapotheke stehenden Medikamente aufnahm, und von dort aus ins Nähzimmer, wo sie die Puppen bewunderte. Ein hübsches Haus. Ein reizendes Haus. Ein Jammer, daß der Mann, der hier wohnte, so ein großes Arschloch war.
Nettie schaute auf die Uhr und dachte, daß es Zeit würde, die rosa Zettel anzubringen. Und das würde sie auch tun.
Sobald sie damit fertig war, sich unten umzusehen.
6
»Danforth, ist das nicht ein bißchen zu schnell?« fragte Myrtle atemlos, als Keeton an einem langsam fahrenden Papierlaster vorbeijagte. Ein entgegenkommender Wagen hupte laut, als Keeton wieder auf seine Fahrbahn einschwenkte.
»Ich will es bis zum Anpfiff schaffen«, sagte er und bog nach links in die Maple Sugar Road ein, vorbei an einem Schild, auf dem stand CASTLE ROCK 8 MEILEN.
7
Nettie schaltete den Fernseher ein – die Keetons hatten einen großen Farb-Mitsubishi – und schaute sich einen Teil des sonntäglichen Superfilms an. Ava Gardner spielte mit, und Gregory Peck. Gregory schien in Ava verliebt zu sein, aber das war schwer zu sagen; vielleicht war es auch die andere Frau, in die er verliebt war. Es hatte einen Atomkrieg gegeben, und Gregory Peck befehligte ein Unterseeboot. Das interessierte Nettie nicht sonderlich, also stellte sie den Fernseher wieder ab, klebte einen rosa Zettel auf den Bildschirm und ging in die Küche. Sie schaute nach, was sich in den Schränken befand (das Geschirr war Corelle Ware, sehr hübsch, aber die Töpfe und Pfannen waren nicht der Rede wert); dann überprüfte sie den Kühlschrank. Sie rümpfte die Nase. Zu viele Reste. Zu viele Reste waren ein eindeutiges Anzeichen für schlampiges Haushalten. Nicht, daß Buster das wußte; darauf würde sie wetten. Männer wie Buster waren nicht imstande, sich ohne Karte und Blindenhund in einer Küche zurechtzufinden.
Sie schaute auf die Uhr, dann fing sie an. Sie hatte schrecklich viel Zeit mit dem Herumwandern im Haus verbracht. Zuviel Zeit. Schnell begann sie, rosa Zettel von dem Block abzureißen und sie an alle möglichen Dinge zu kleben – den Kühlschrank, den Herd, das Telefon, das neben der Tür zur Garage an der Wand hing, den Raumteiler im Eßzimmer. Und je schneller sie arbeitete, desto nervöser wurde sie.
8
Nettie hatte sich gerade ans Werk gemacht, als Keetons roter Cadillac die Tin Bridge überquerte und die Watermill Lane erreichte, die nach Castle View hinaufführte.
»Danforth?« fragte Myrtle plötzlich. »Könntest du mich bei Amanda Williams’ Haus absetzen? Ich weiß, es ist ein kleiner Umweg, aber sie hat meinen Fonduetopf. Ich dachte...« Auf ihrem Gesicht erschien abermals das schüchterne Lächeln und verschwand dann wieder. »Ich dachte, ich könnte dir – uns – eine kleine Leckerei machen. Für das Footballspiel. Du brauchst mich nur abzusetzen.«
Er machte den Mund auf, um ihr zu erklären, daß es ein gewaltiger Umweg war, daß das Spiel gleich beginnen würde, daß sie ihren verdammten Fonduetopf auch morgen holen konnte. Er mochte ohnehin keinen Käse, der heiß und geschmolzen war. Das verdammte Zeug wimmelte vermutlich von Bakterien.
Dann überlegte er es sich anders. Von ihm abgesehen, bestand der Stadtrat aus zwei dämlichen Bastarden und einer dämlichen Ziege. Die Ziege war Mandy Williams. Keeton hatte sich die Mühe gemacht, Bill Fullerton, den Stadtbarbier, und Harry Samuels, Castle Rocks einzigen Leichenbestatter, am Freitag aufzusuchen. Er hatte sich bemüht, so zu tun, als handelte es sich um beiläufige Besuche, aber das waren sie nicht gewesen. Es bestand immer die Möglichkeit, daß die Finanzbehörde auch an sie geschrieben hatte. Er hatte sich davon überzeugt, daß dies nicht der Fall war – noch nicht -, aber die Ziege Williams war am Freitag nicht in der Stadt gewesen.
»Also gut«, sagte er, dann setzte er hinzu:
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