In einer kleinen Stad
Manteltasche. Sie hielt ihn hoch, damit Mr. Gaunt ihn sehen konnte.
»Sehr gut!« sagte er freundlich. »Und nun stecken Sie ihn wieder ein, Nettie. Dahin, wo Sie ihn nicht verlieren können.«
Sie tat es.
»So, und hier sind die Papiere.« Er legte ihr den rosa Block in die eine Hand. In die andere legte er einen Klebebandspender. Jetzt begannen irgendwo in ihr Alarmglocken zu schrillen, aber sie waren weit weg, kaum zu hören.
»Ich hoffe, es dauert nicht lange. Ich muß bald nach Hause. Ich muß Raider füttern. Das ist mein kleiner Hund.«
»Ich weiß alles über Raider«, sagte Mr. Gaunt und bedachte Nettie mit einem breiten Lächeln. »Aber ich habe so ein Gefühl, als hätte er heute nicht viel Appetit. Und ich glaube auch nicht, daß Sie Sorge haben müssen, daß er auf den Küchenfußboden pinkelt.«
»Aber...«
Er berührte ihre Lippen mit einem seiner langen Finger und plötzlich wurde ihr entsetzlich übel.
»Nicht«, winselte sie und wich auf dem Stuhl zurück, so weit sie konnte. »Nicht, das ist scheußlich.«
»So sagt man«, pflichtete Mr. Gaunt ihr bei. »Und wenn Sie nicht wollen, daß ich scheußlich zu Ihnen bin, Nettie, dann dürfen Sie nie wieder dieses scheußliche Wort gebrauchen.«
»Welches Wort?«
» Aber . Ich kann dieses Wort nicht ausstehen. Man könnte sogar sagen, daß ich dieses Wort hasse . In der besten aller Welten besteht keinerlei Veranlassung, ein derart jämmerliches kleines Wort zu gebrauchen. Ich möchte, daß Sie etwas anderes für mich sagen, Nettie – ich möchte, daß Sie ein paar Worte aussprechen, die ich liebe. Worte, für die ich regelrecht schwärme.«
»Was für Worte?«
»Mr. Gaunt weiß es am besten. Sagen Sie das.«
»Mr. Gaunt weiß es am besten«, wiederholte sie, und sobald die Worte aus ihrem Mund heraus waren, begriff sie, wie absolut und vollständig wahr sie waren.
»Mr. Gaunt weiß es immer am besten.«
»Mr. Gaunt weiß es immer am besten.«
»Richtig! Genau wie Vater«, sagte Mr. Gaunt, und dann lachte er. Es war ein Geräusch, als bewegten sich Felsplatten tief in der Erde, und dabei veränderte sich die Farbe seiner Augen blitzschnell von Blau über Grün und Braun zu Schwarz. »Und jetzt hören Sie mir genau zu, Nettie. Sie haben diesen kleinen Auftrag für mich zu erledigen, und dann können Sie nach Hause gehen. Haben Sie verstanden?«
Nettie hatte verstanden.
Und sie hörte sehr genau zu.
Zehntes Kapitel
1
South Paris ist eine kleine, schäbige Fabrikstadt achtzehn Meilen nordöstlich von Castle Rock. Es ist nicht das einzige kleine Nest in Maine, das nach einer europäischen Stadt oder einem europäischen Land benannt worden ist; es gibt ein Madrid (die Einheimischen sprechen es Mad-drid aus), ein Sweden, ein Etna, ein Calais (so ausgesprochen, daß es sich auf Dallas reimt), ein Cambridge und ein Frankfort. Es mag Leute geben, die wissen, wie oder warum so viele obskure Orte zu derart exotischen Namen gelangt sind; ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, daß vor ungefähr zwanzig Jahren ein sehr guter französischer Küchenchef beschloß, New York zu verlassen und im Seengebiet von Maine ein eigenes Restaurant zu eröffnen, und daß er fand, für ein derartiges Unternehmen könnte es keinen besseren Ort geben als eine Stadt, die South Paris hieß. Nicht einmal der Gestank der Gerbereien konnte ihn davon abhalten. Das Ergebnis war ein Restaurant namens Maurice. Das gibt es noch heute, an der Route 117 neben den Eisenbahngleisen und genau gegenüber von McDonald’s. Und es war Maurice, wohin Danforth »Buster« Keeton am Sonntag, dem 13. Oktober, seine Frau zum Essen ausführte.
Myrtle verbrachte einen großen Teil dieses Sonntags in ekstatischer Benommenheit, und das lag nicht nur an dem guten Essen bei Maurice. In den letzten Monaten – fast das ganze letzte Jahr, um genau zu sein – war das Zusammenleben mit Danforth äußerst unerfreulich gewesen. Er ignorierte sie fast vollständig – außer, wenn er nach ihr schrie. Ihre Selbstachtung, mit der es ohnehin nie sehr weit hergewesen war, stürzte in neue Tiefen. Sie wußte so gut wie jede andere Frau, daß Mißhandlung nicht immer mit den Fäusten appliziert zu werden brauchte, um ihre Wirkung zu tun. Männer können ebenso wie Frauen mit ihren Zungen verletzen, und Danforth Keeton wußte die seine sehr gut zu gebrauchen; er hatte ihr mit ihren scharfen Kanten im Laufe des letzten Jahres tausend unsichtbare Schnitte beigebracht.
Sie wußte nichts von
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