In einer kleinen Stad
Genaueres, aber man ging allgemein davon aus, daß sie das neue Unternehmen mit Tante Ewie Chalmers’ Geld finanziert hatte. Wem sonst hätte die verrückte alte Schachtel es hinterlassen sollen?
Die besonders interessierten Zuschauer der comedie humaine in Castle Rock (und das waren die meisten) zweifelten nicht daran, daß, wenn Polly ihren kleinen Laden zum Erfolg führte und in der Stadt blieb, der größte Teil der Dinge, die sie zu gern gewußt hätten, im Laufe der Zeit ans Licht kommen würde. Aber in Pollys Fall blieb sehr vieles im dunkeln. Und das war wirklich ziemlich aufreibend.
Sie hatte einige Jahre in San Francisco gelebt, soviel war bekannt, aber viel mehr nicht – Lorraine Chalmers war, was ihre ungeratene Tochter anging, verschlossen gewesen wie eine Auster. War Polly dort oder irgendwo anders zur Schule gegangen? Sie führte ihr Geschäft, als hätte sie eine Handelsschule besucht und eine Menge gelernt, aber niemand konnte es mit Sicherheit sagen. Sie war allein, als sie zurückkehrte; aber war sie jemals verheiratet gewesen, entweder in San Francisco oder an irgendeinem der anderen Orte, in denen sie die Jahre zwischen damals und heute verbracht hatte? Auch das wußte niemand. Man wußte nur, daß sie niemals den Sheehan-Jungen geheiratet hatte – er war bei den Marines eingetreten, hatte dort ein paar Jahre gedient und verkaufte jetzt irgendwo in New Hampshire Immobilien. Und weshalb war sie nach all den Jahren zurückgekehrt, um zu bleiben?
Vor allem fragten sie sich immer wieder, was aus dem Kind geworden sein mochte. Hatte die hübsche Polly es abtreiben lassen? Hatte sie es zur Adoption freigegeben? Hatte sie es behalten? Wenn ja, war es gestorben? War es noch am Leben, besuchte irgendwo eine Schule und schrieb seiner Mutter hin und wieder einen Brief? Auch das wußte niemand, und in mancher Hinsicht waren es diese unbeantworteten Fragen, die den Leuten am meisten zu schaffen machten. Das junge Mädchen, das mit einem Brötchen im Ofen die Stadt in einem Greyhound-Bus verlassen hatte, war jetzt eine Frau von fast vierzig Jahren und lebte und arbeitete bereits seit vier Jahren wieder in der Stadt, und bisher kannte man noch nicht einmal das Geschlecht des Kindes, das der Grund ihrer Abreise gewesen war.
Erst kürzlich hatte Polly Chalmers der Stadt einen neuen Beweis für ihre Exzentrizität geliefert, wenn ein solcher überhaupt noch erforderlich gewesen wäre: sie hatte sich mit Alan Pangborn zusammengetan, dem Sheriff von Castle County; und Sheriff Pangborn hatte erst vor anderthalb Jahren seine Frau und seinen jüngeren Sohn begraben. Dieses Verhalten war nicht direkt ein Skandal, aber es war zweifellos exzentrisch, und deshalb war niemand überrascht, zu sehen, wie Polly Chalmers um zwei Minuten nach zehn Uhr am Morgen des 9. Oktober auf dem Gehsteig der Main Street von ihrer Tür zu der von Needful Things hinüberging. Sie waren nicht einmal von dem überrascht, was sie in ihren behandschuhten Händen trug: einen Tupperware-Behälter, der nur eine Torte enthalten konnte.
Das war zu erwarten gewesen, sagten die Einheimischen, als sie sich später darüber unterhielten.
2
Vor dem Schaufenster von Needful Things war der Kalk abgewaschen worden, und ungefähr ein Dutzend Objekte waren darin ausgestellt – Uhren, ein silbernes Medaillon, ein Gemälde, ein wunderschöner dreiteiliger Bilderrahmen, der nur darauf wartete, daß ihn jemand mit den Fotos seiner Lieben füllte. Polly warf einen beifälligen Blick auf diese Gegenstände, dann ging sie zur Tür. Auf dem Schild, das dort hing, stand GEÖFFNET. Als sie sie aufstieß, bimmelte über ihrem Kopf ein Glöckchen – es war erst nach Brian Rusks Vorbesichtigung angebracht worden.
Der Laden roch nach neuem Teppichboden und frischer Farbe. Er war von Sonnenlicht erfüllt, und als sie eintrat und sich interessiert umschaute, drängte sich ihr der Gedanke auf: Dies ist ein Erfolg. Bisher ist noch kein Kunde über die Schwelle getreten – sofern nicht ich einer bin -, und schon ist es ein Erfolg. Bemerkenswert. Derart vorschnelle Urteile waren sonst nicht ihre Art, und ebensowenig ihr Gefühl der Anerkennung auf den ersten Blick, aber beides ließ sich nicht leugnen.
Ein hochgewachsener Mann beugte sich über eine der Vitrinen. Als das Glöckchen bimmelte, schaute er auf und lächelte sie an. »Hallo«, sagte er.
Polly war eine praktische Frau, die ihren eigenen Kopf kannte und in der Regel mochte, was sie darin vorfand, und
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