In einer kleinen Stad
existieren, und es gilt als schlechtes Benehmen, zu früh und zu viel Anteilnahme an den Tag zu legen oder auf irgendeine Art erkennen zu lassen, daß man mehr empfindet als nur ein flüchtiges Interesse, sozusagen.
Die Erkundung eines neuen Ladens in einer kleinen Stadt und die Teilnahme an einer gesellschaftlich wichtigen Party in einer großen Stadt sind beides Aktivitäten, die bei denen, die sich daran zu beteiligen gedenken, ein gewisses Maß an Erregung auslösen; und für beides gibt es Regeln – Regeln, die unausgesprochen, unumstößlich und einander seltsam ähnlich sind. Die wichtigste davon ist: Niemand darf als erster eintreffen. Natürlich muß irgend jemand gegen diese Kardinalregel verstoßen, sonst käme überhaupt niemand, aber ein neuer Laden bleibt, nachdem das GESCHLOSSEN-Schild im Fenster umgedreht worden ist und zum erstenmal GEÖFFNET anzeigt, gewöhnlich mindestens zwanzig Minuten leer, und ein erfahrener Beobachter kann mit ziemlicher Sicherheit darauf wetten, daß die ersten Besucher in einer Gruppe erscheinen – zwei, drei, wahrscheinlich jedoch vier Damen.
Die zweite Regel besagt, daß die ersten Kunden eine Höflichkeit an den Tag legen, die fast ans Eisige grenzt. Die dritte ist, daß niemand (zumindest beim ersten Besuch) dem Ladenbesitzer irgendwelche Fragen über seine Herkunft oder seine Bonität stellt. Die vierte ist, daß ihm niemand ein Willkommensgeschenk überreicht, schon gar nicht ein so heikles wie einen selbstgebackenen Kuchen. Die letzte Regel ist so unumstößlich wie die erste: Niemand darf als letzter gehen.
Diese feierliche Gavotte, die man den »Tanz der weiblichen Erkundung« nennen könnte, dauert gewöhnlich zwei Wochen bis zwei Monate; wenn ein Ortsansässiger einen Laden eröffnet, findet sie überhaupt nicht statt. In diesem Fall gleicht die Eröffnung eher einem Kirchenessen in der Old Home Week – zwanglos, lebhaft und ziemlich fade. Aber wenn der neue Handelsmann Von Außerhalb kommt (es wird immer so ausgesprochen, daß man die großen Anfangsbuchstaben hören kann), dann ist der Tanz der weiblichen Erkundung so sicher wie die Tatsache des Todes und der Schwerkraft. Wenn die Probezeit vorüber ist (niemand gibt eine Anzeige in der Zeitung auf, die darauf hinweist, aber irgendwie wissen es trotzdem alle), dann passiert eines von zwei Dingen: entweder nehmen die Geschäfte einen normalen Verlauf, und zufriedene Kunden bringen verspätete Willkommensgeschenke und Einladungen, oder der neue Laden geht nicht. In Städten wie Castle Rock spricht man gelegentlich von einem »bankrotten Laden«, und zwar bereits Wochen oder sogar Monate, bevor die glücklosen Inhaber diesen Tatbestand selbst feststellen.
Aber in Castle Rock gab es eine Frau, die sich nicht an die allgemeinen gültigen Regeln hielt, so unumstößlich sie anderen auch erscheinen mochten. Diese Frau war Polly Chalmers, die Inhaberin von You Sew and Sew. Die meisten Leute erwarteten auch nicht von ihr, daß sie sich wie ein normaler Mensch benahm; die meisten Damen von Castle Rock (und viele der Herren) hielten Polly Chalmers für exzentrisch.
Polly stellte die selbsternannten Richter über das gute Benehmen in Castle Rock vor eine ganze Reihe von Problemen. Zum einen konnte sich niemand über die grundlegende Tatsache klar werden: stammt Polly Aus Dem Ort oder stammte sie Von Außerhalb? Gewiß, sie war in Castle Rock geboren, aber sie hatte den Ort, von Duke Sheehan in andere Umstände gebracht, im Alter von achtzehn Jahren verlassen. Das war 1970 gewesen, und sie war nur einmal zu Besuch gekommen, bevor sie 1987 endgültig zurückkehrte.
Dieser kurze Besuch hatte Ende 1975 begonnen, als ihr Vater an Darmkrebs starb. Nach seinem Tod hatte Lorraine Chalmers einen Herzinfakt gehabt, und Polly war geblieben, um ihre Mutter zu pflegen. Lorraine hatte im zeitigen Frühjahr 1976 einen zweiten, diesmal tödlichen Herzinfakt erlitten; und nachdem ihre Mutter in Homeland zur letzten Ruhe bestattet worden war, war Polly (um die sich inzwischen, soweit es die Damen der Stadt betraf, eine echte Aura des Geheimnisvollen gebreitet hatte) wieder abgereist.
Diesmal für immer war die übereinstimmende Ansicht, und als die letzte noch verbliebene Chalmers, die alte Tante Evvie, 1981 starb und Polly nicht an der Beerdigung teilnahm, schien diese Ansicht erwiesene Tatsache geworden zu sein. Aber vier Jahre später war sie tatsächlich zurückgekehrt und hatte ihre Schneiderei eröffnet. Zwar wußte niemand
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