In einer kleinen Stad
deshalb war der Moment der Unsicherheit, die sie überkam, als sie diesem Fremden in die Augen schaute, schon als solcher verwirrend.
Ich kenne ihn, war der erste klare Gedanke, der diese unerwartete Wolke durchbrach. Ich bin diesem Mann schon einmal begegnet. Wo?
Doch das war nicht der Fall, und diese Gewißheit kam einen Augenblick später. Es war ein déjà vu, dieses Gefühl irrtümlicher Erinnerung, das von Zeit zu Zeit fast jedermann überkommt, ein Gefühl, das verstörend ist, weil es gleichzeitig so traumhaft und so prosaisch ist.
Ein paar Sekunden lang war sie aus der Fassung und konnte ihn nur lahm anlächeln. Dann bewegte sie ihre linke Hand, um den Tortenbehälter sicherer zu fassen, und ein grausamer Bolzen aus Schmerz fuhr durch den Handrücken und in zwei grellen Dornen zum Handgelenk. Es fühlte sich an, als steckten die Zinken einer großen Chromgabel tief in ihrem Fleisch. Es war Arthritis, und es tat verflucht weh, aber zumindest brachte es sie wieder zur Besinnung, und sie sprach ohne erkennbare Verzögerung – aber sie dachte, daß es durchaus möglich war, daß der Mann es doch bemerkt hatte. Er hatte strahlende, nußbraune Augen, die aussahen, als würden sie sehr vieles bemerken.
»Hi«, sagte sie. »Mein Name ist Polly Chalmers. Mir gehört die kleine Schneiderei zwei Türen weiter. Und da wir Nachbarn sind, dachte ich, ich sollte herüberkommen und Sie in Castle Rock willkommen heißen, bevor der Ansturm losgeht.«
Er lächelte, und sein ganzes Gesicht leuchtete auf. Sie spürte, wie ein Lächeln ihre Lippen anhob, obwohl ihre linke Hand noch immer teuflisch weh tat. Wenn ich nicht bereits Alan lieben würde, dachte sie, könnte ich ohne weiteres vor diesem Mann in die Knie gehen. Zeig mir das Schlafzimmer, Meister, ich gehe mit. Mit einem Anflug von Belustigung fragte sie sich, wie viele der Damen, die bis zum Ende des Tages auf einen kurzen Blick hier hereinschauen würden, wohl völlig in ihn vernarrt sein würden. Sie sah, daß er keinen Ehering trug; weiteres Öl ins Feuer.
»Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen, Ms. Chalmers«, sagte er und trat vor. »Ich bin Leland Gaunt.« Er streckte ihr die rechte Hand entgegen, als er auf sie zukam; dann runzelte er die Stirn, weil sie rasch einen kleinen Schritt zurücktrat.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ich gebe niemandem die Hand. Bitte halten Sie mich nicht für unhöflich. Ich habe Arthritis.« Sie stellte den Tupperware-Behälter auf die nächste Vitrine und hob ihre Hände, die in Glacehandschuhen steckten. Sie hatten nichts Groteskes an sich, aber sie waren eindeutig deformiert, die linke ein wenig stärker als die rechte.
In der Stadt gab es Frauen, die glaubten, Polly wäre tatsächlich stolz auf ihre Krankheit; weshalb sonst, so argumentierten sie, wäre sie so darauf versessen, ihre Hände sofort vorzuzeigen? Genau das Gegenteil war der Fall. Obwohl nicht eitel, war Polly doch an ihrer Erscheinung interessiert genug, daß die Häßlichkeit ihrer Hände sie verlegen machte. Sie zeigte sie, so schnell sie konnte, und jedesmal, wenn sie es tat, schoß ihr ganz kurz immer wieder der gleiche Gedanke durch den Kopf – so kurz, daß er ihr nur sehr selten bewußt wurde. So. Das ist erledigt. Jetzt können wir zu dem übergehen, was gerade anliegt.
Die anderen Leute ließen gewöhnlich selbst ein gewisses Maß an Unbehagen oder Verlegenheit erkennen, wenn sie ihnen ihre Hände zeigte. Gaunt tat es nicht. Er ergriff ihren Oberarm mit Händen, die sich außergewöhnlich kräftig anfühlten, und schüttelte ihn anstelle der Hand. Sie hätte es als eine bei der ersten Begegnung unangemessen intime Geste empfinden können, aber das war nicht der Fall. Die Geste war freundschaftlich, kurz, sogar ein wenig amüsant. Dennoch war sie froh, daß sie kurz war. Seine Hände fühlten sich trocken und unangenehm an, selbst durch den leichten Herbstmantel hindurch, den sie anhatte.
»Es muß sehr schwierig sein, gerade mit dieser Behinderung eine Schneiderei zu betreiben, Ms. Chalmers. Wie schaffen Sie das?«
Das war eine Frage, die ihr nur sehr wenige Leute stellten, und sie konnte sich nicht erinnern, daß irgend jemand, Alan ausgenommen, sie jemals so direkt gestellt hatte.
»Ich habe den ganzen Tag genäht, solange ich konnte«, sagte sie. »Mit zusammengebissenen Zähnen, könnte man sagen. Jetzt habe ich ein halbes Dutzend Mädchen, die halbtags für mich arbeiten, und ich beschränke mich fast nur noch auf das Entwerfen. Aber
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