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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wischte es mit einer seiner merkwürdigen, langfingrigen Hände beiläufig ab, bückte sich dann, um seine Tasche aufzuheben – und hielt plötzlich inne. So vornübergebeugt, mit eingeknickten langen Beinen und einem ausgestreckten langen Arm sah er aus wie ein Holzschnitt von Ichabod Crane. Aber das, wonach er griff, war nicht mehr da. Die Tasche aus Hyänenhaut mit ihren grauenhaft atmenden Seiten stand jetzt zwischen Alans Füßen. Er hatte sie an sich genommen, während Mr. Gaunt mit der Schlange beschäftigt war, und er hatte es mit seiner gewohnten Schnelligkeit und Geschicklichkeit getan.
    Jetzt konnte an Mr. Gaunts Gesichtsausdruck keinerlei Zweifel bestehen: eine tosende Mischung aus Wut, Haß und ungläubigem Erstaunen verzerrte seine Züge. Seine Oberlippe hob sich und entblößte seine schiefen Zähne. Jetzt liefen all diese Zähne in Spitzen aus, als wären sie für diesen Anlaß gefeilt worden.
    Er streckte mit gespreizten Fingern die Hand aus und schrie: » Geben Sie her – sie gehört mir!«
    Alan wußte nicht, daß Leland Gaunt Dutzenden von Einwohnern von Castle Rock, von Hugh Priest bis zu Slopey Dodd, versichert hatte, daß er nicht das geringste Interesse an menschlichen Seelen hätte – daß sie nichts wären als erbärmliche, verschrumpelte, verkümmerte Dinge. Wenn er es gewußt hätte, dann hätte Alan nur gelacht und darauf hingewiesen, daß Lügen Mr. Gaunts wichtigstes Betriebskapital waren. Oh, er wußte, was in der Tasche war – was darinnen steckte, heulend wie Überlandleitungen bei starkem Wind und atmend wie ein verängstigter alter Mann auf dem Sterbebett. Er wußte es ganz genau.
    Mr. Gaunts Lippen verzogen sich zu einem makabren Grinsen. Seine gräßlichen Hände streckten sich Alan noch weiter entgegen.
    »Ich warne Sie, Sheriff – legen Sie sich nicht mit mir an. Ich bin kein Mann, mit dem man sich anlegen sollte. Diese Tasche gehört mir, haben Sie verstanden?«
    »Das glaube ich nicht, Mr. Gaunt. Ich bin ziemlich sicher, daß das, was darin steckt, gestohlenes Gut ist. Ich glaube, Sie sollten lieber...«
    Ace hatte Mr. Gaunts subtile, aber stetige Verwandlung von einem Geschäftsmann in ein Monster offenen Mundes verfolgt. Der Arm um Pollys Hals lockerte sich ein wenig, und sie erkannte ihre Chance. Sie drehte den Kopf und grub ihre Zähne bis zum Zahnfleisch in Ace’s Handgelenk. Ace stieß sie ohne weiteres Nachdenken beiseite, und Polly stürzte der Länge nach auf die Straße. Ace richtete die Pistole auf sie.
    » Biest !« schrie er.

15
     
    »So«, murmelte Norris Ridgewick dankbar.
    Er hatte den Lauf seines Dienstrevolvers auf eine der Blaulichtstangen auf dem Dach gelegt. Jetzt hielt er den Atem an, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und drückte ab. Ace Merrill wurde plötzlich auf die Frau auf der Straße geschleudert – es war Polly Chalmers, und Norris hatte Zeit zu denken, daß er das eigentlich hätte wissen müssen -, mit weggeschossenem Hinterkopf, der in Klumpen und Klümpchen zerspritzte.
    Plötzlich fühlte sich Norris sehr schwach.
    Aber er fühlte sich auch sehr, sehr glücklich.

16
     
    Alan nahm Ace Merrills Ende nicht zur Kenntnis.
    Und Leland Gaunt auch nicht.
    Sie standen einander gegenüber, Gaunt auf dem Gehsteig, Alan neben seinem Kombi auf der Straße mit der grauenhaften, atmenden Tasche zwischen den Füßen.
    Gaunt tat einen tiefen Atemzug und schloß die Augen. Etwas wischte über sein Gesicht – eine Art Schimmern. Als er die Augen wieder öffnete, ähnelte er wieder jenem Leland Gaunt, der so viele Leute in Castle Rock zum Narren gehalten hatte – dem charmanten, verbindlichen Mr. Gaunt. Er schaute auf die Papierschlange herab, die auf dem Gehsteig lag, verzog angewidert das Gesicht und beförderte sie mit einem Fußtritt in den Rinnstein. Dann sah er Alan an und streckte eine Hand aus.
    »Bitte Sheriff – wir wollen nicht streiten. Es ist spät, und ich bin müde. Sie wollen mich aus Ihrer Stadt heraushaben, und ich möchte verschwinden. Ich werde verschwinden, sobald Sie mir zurückgegeben haben, was mir gehört. Und es gehört mir, das versichere ich Ihnen.«
    »Sie können versichern, soviel Sie wollen. Ich glaube Ihnen nicht, mein Freund.«
    Gaunts Augen verrieten Ungeduld und Zorn. »Diese Tasche und ihr Inhalt gehören mir ! Halten Sie etwa nichts von freier Marktwirtschaft? Sind Sie ein verkappter Kommunist? Ich habe für jeden Gegenstand in dieser Tasche einen fairen Preis bezahlt. Wenn es eine Belohnung ist, auf

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