In einer kleinen Stad
aufwachte, fühlte sie sich erfrischt und erstaunlich gelassen. Als sie in ihrem Morgenmantel am Freitagmorgen am Küchentisch saß, kam ihr der Gedanke, daß es vielleicht noch zu früh war, um Die Sache ein für allemal in die Hand zu nehmen. Sie hatte Nettie am Vorabend am Telefon einen Mordsschrecken eingejagt; Wilma war zwar wütend gewesen, aber doch nicht so wütend, daß ihr das entgangen wäre. Nur einer Person, die so taub war wie ein Gartentor, hätte das entgehen können.
Weshalb also Miss Geisteskrank von 1991 nicht noch ein bißchen im Wind schaukeln lassen? Sollte sie es doch sein, die nachts wach lag und sich fragte, aus welcher Richtung der Zorn Wilmas sie ereilen würde. Ein paarmal vorbeifahren, vielleicht noch ein paar weitere Anrufe. Während sie ihren Kaffee trank (Pete saß ihr gegenüber und beobachtete sie argwöhnisch über den Sportteil der Zeitung hinweg), kam ihr der Gedanke, daß sie, wenn Nettie so verrückt war, wie jedermann behauptete, Die Sache vielleicht überhaupt nicht in die Hand zu nehmen brauchte. Sie empfand diesen Gedanken als so erfreulich, daß sie Pete tatsächlich erlaubte, sie zu küssen, als er nach seinem Aktenkoffer griff und sich bereitmachte, zur Arbeit zu fahren.
Der Gedanke, daß ihre verschreckte Maus von einem Ehemann sie unter Drogen gesetzt haben könnte, kam Wilma überhaupt nicht. Aber genau das hatte Pete Jerzyck getan, und zwar nicht zum ersten Mal.
Wilma wußte, daß sie ihren Mann eingeschüchtert hatte, aber sie wußte nicht, in welchem Maße. Er lebte nicht nur in Angst vor ihr; er lebte in Ehrfurcht vor ihr, ungefähr so, wie die Eingeborenen bestimmter tropischer Regionen einst angeblich in Ehrfurcht und abergläubischer Angst vor dem Großen Gott Donnerberg gelebt hatten, der über Jahre oder sogar Generationen hinweg stumm über ihrem heiteren Leben brüten konnte, bevor er eines Tages plötzlich in einer mörderischen Tirade glühender Lava explodierte.
Eingeborene dieser Wesensart hatten zweifellos ihre eigenen Versöhnungsrituale. Sie mochten nicht viel nützen, wenn der Berg erwachte und seine Donnerbolzen und Feuerströme auf ihre Dörfer schleuderte, aber gewiß trugen sie zu jedermanns Seelenfrieden bei, solange der Berg ruhig war. Pete Jerzyck kannte keine großartigen Rituale, mit denen er Wilma hätte verehren können; er mußte zu prosaischeren Maßnahmen greifen. Zu verschreibungspflichtigen Medikamenten zum Beispiel anstelle von Abendmahlshostien.
Er machte mit Ray Van Allen, Castle Rocks einzigem praktischem Arzt, einen Termin aus und sagte ihm, daß er gern etwas hätte, das seine Angstgefühle linderte. Seine Arbeitszeiten seien die reinste Hölle, erklärte er Ray, und je mehr Aufträge er hereinholte, desto schwerer fiele es ihm, die mit der Arbeit verbundenen Probleme im Büro zurückzulassen. Deshalb war er zu dem Schluß gekommen, den Doktor zu bitten, ihm etwas zu verschreiben, das die rauhen Kanten ein wenig glätten würde.
Ray Van Allen hatte keine Ahnung von dem Druck, dem ein Mann im Grundstücksgeschäft ausgesetzt war, aber er konnte sich ungefähr vorstellen, was es hieß, mit Wilma zusammenzuleben. Er vermutete, daß Pete Jerzyck erheblich weniger unter Angstgefühlen leiden würde, wenn er einfach im Büro blieb und nicht nach Hause fuhr; aber das zu sagen, war nicht seine Sache. Er schrieb ein Rezept für Xanax aus, äußerte die üblichen Warnungen und wünschte dem Mann viel Glück und alles Gute. Er war überzeugt, daß Pete, der die Lebensstraße im Gespann mit dieser speziellen Stute entlangrollte, von beidem eine Menge nötig hatte.
Pete gebrauchte das Xanax, aber er mißbrauchte es nicht. Und er erwähnte es auch Wilma gegenüber nicht – sie wäre in die Luft gegangen, wenn sie gewußt hätte, daß er DROGEN NAHM. Er achtete sorgfältig darauf, daß das Xanax-Rezept in seinem Aktenkoffer blieb, der Papiere enthielt, die Wilma nicht im mindesten interessierten. Er nahm fünf oder sechs Tabletten im Monat, die meisten davon an den Tagen, bevor Wilmas Periode einsetzte.
Dann, im letzten Sommer, hatte Henrietta Longman, die Besitzerin und Geschäftsführerin von The Beauty Rest auf Castle Hill, Wilmas Zorn auf sich gezogen. Das Streitobjekt war eine mißlungene Dauerwelle. Nach dem anfänglichen lautstarken Wortwechsel gab es am folgenden Tag eine Auseinandersetzung in Hemphill’s Market und dann ein gegenseitiges Anschreien auf der Main Street eine Woche später. Letzteres wäre fast in ein
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