In einer kleinen Stad
tun.«
Endlich richtete sie sich auf, fand ein Kleenex zwischen der Sesselkante und einem Kissen und wischte sich damit die Tränen aus dem Gesicht. Sie war verängstigt – aber sie konnte auch spüren, wie Zorn in ihr brodelte. Genau so war ihr zumute gewesen, als sie die Fleischgabel aus der Schublade unter dem Ausguß geholt und sie ihrem Mann in die Kehle gestoßen hatte.
Sie nahm den Buntglas-Lampenschirm vom Tisch und drückte ihn sanft an sich. »Wenn sie etwas anstellt, dann wird es ihr sehr, sehr leid tun«, sagte Nettie.
So saß sie, mit Raider zu ihren Füßen und dem Lampenschirm auf dem Schoß, lange Zeit da.
5
Norris Ridgewick fuhr in seinem Streifenwagen langsam die Main Street hinunter und ließ den Blick über die Gebäude an der Westseite der Straße schweifen. Seine Schicht war bald vorbei, und er war froh darüber. Er wußte noch, wie gut er sich an diesem Vormittag gefühlt hatte, bevor dieser Idiot ihn angegriffen hatte; er erinnerte sich, wie er in der Herrentoilette vor dem Spiegel gestanden, seine Mütze zurechtgerückt und befriedigt gedacht hatte, daß er aussah wie ein Mann, der auf Draht ist. Er erinnerte sich, aber die Erinnerung kam ihm alt und sepiafarben vor wie ein Foto aus dem neunzehnten Jahrhundert. Von dem Moment an, in dem dieser Idiot Keeton ihn gepackt hatte, war alles schiefgegangen.
Er hatte im Cluck-Cluck Tonite zu Mittag gegessen, der Hähnchenbude draußen an der Route 119. Normalerweise war das Essen dort gut, aber diesmal hatte er danach fürchterliches Sodbrennen bekommen, und anschließend hatte er einen gewaltigen Durchfall gehabt. Gegen drei war er auf der Town Road Nr. 7 in der Nähe des alten Camber-Anwesens auf einen Nagel gefahren und hatte den Reifen wechseln müssen. Er hatte sich die Finger an seiner frisch gereinigten Uniformbluse abgewischt, ohne zu bedenken, was er tat; er wollte nur die Fingerspitzen abtrocknen, um die gelockerten Radmuttern sicherer fassen zu können, und dabei hatte er vier dunkelgraue Streifen Schmiere auf der Bluse hinterlassen. Noch während er sie verärgert betrachtete, hatten die Krämpfe seine Eingeweide wieder in Wasser verwandelt, und er mußte sich eilends ins Gebüsch begeben. Es war ein Wettrennen gewesen – würde er die Hose herunterbekommen, bevor sie voll war? Dieses Wettrennen hatte Norris gewonnen – aber das Aussehen der Sträucher, zwischen denen er sich niedergehockt hatte, hatte ihm gar nicht gefallen. Sie hatten ausgesehen wie Giftsumach, und in Anbetracht des bisherigen Tagesverlaufs waren sie es vermutlich auch gewesen.
Norris fuhr langsam an den Gebäuden vorüber, die Castle Rocks Geschäftsviertel ausmachen: die Norway Bank and Trust, das Western Auto, Nan’s Luncheonette, die schwarze Lücke, wo früher Pop Merrills Trödelladen gestanden hatte, You Sew and Sew, Needful Things, Castle Rock Hardware...
Norris trat plötzlich auf die Bremse und hielt an. Er hatte im Schaufenster von Needful Things etwas Erstaunliches gesehen – oder glaubte zumindest, es gesehen zu haben.
Er warf einen Blick in den Rückspiegel, aber die Main Street war menschenleer. Die Ampel am unteren Ende des Geschäftsviertels schaltete sich plötzlich ab und blieb ein paar Sekunden lang dunkel. Dann begann das gelbe Licht in der Mitte zu blinken. Neun Uhr also. Neun Uhr, auf die Sekunde genau.
Norris wendete, fuhr ein Stück zurück und lenkte den Wagen an den Bordstein. Er warf einen Blick auf das Funkgerät, dachte daran, 10-22 durchzugeben – Officer verläßt das Fahrzeug – und entschied sich dagegen. Er wollte nur rasch einen Blick in das Schaufenster werfen. Er stellte das Funkgerät etwas lauter und kurbelte das Fenster herunter, bevor er ausstieg. Das mußte eigentlich ausreichen.
Du hast nicht gesehen , was du zu sehen glaubtest , warnte er sich selbst, während er den Gehsteig überquerte. Ganz bestimmt nicht. Heute war ein Tag der Enttäuschungen, nicht der Entdeckungen. Das war nur irgendeine alte Zebco-Rute ...«
Aber das war es nicht. Die Angelrute im Schaufenster von Needful Things stand inmitten einer geschickt arrangierten Szenerie aus einem Netz und ein paar leuchtend gelben Gummistiefeln, und es war ganz eindeutig keine Zebco. Es war eine Bazun. Er hatte keine Bazun-Rute mehr gesehen, seit sein Vater vor sechzehn Jahren gestorben war. Damals war Norris vierzehn gewesen, und er hatte die Bazun aus zwei Gründen geliebt: wegen dem, was sie war und wofür sie gestanden hatte.
Was war sie? Einfach
Weitere Kostenlose Bücher