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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auf, noch einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die verrückte Polin war verschwunden. Ihre anfängliche Erleichterung wurde schnell von Angst verdrängt. Sie fürchtete, daß die verrückte Polin auf den Straßen herumfuhr und darauf wartete, daß sie herauskäme; noch mehr fürchtete sie, daß die verrückte Polin kommen könnte, nachdem sie gegangen war.
    Dann würde sie das Schloß aufbrechen und ihren wunderschönen Lampenschirm sehen und ihn in tausend Stücke zerschmettern.
    Raider winselte abermals.
    »Ich weiß«, sagte sie mit einer Stimme, die fast ein Stöhnen war. »Ich weiß es.«
    Sie mußte gehen. Sie hatte eine Verpflichtung, und sie wußte, worin sie bestand und wem sie verpflichtet war. Polly Chalmers war gut zu ihr gewesen. Es war Polly gewesen, die die Empfehlung geschrieben hatte, die sie endgültig aus Juniper Hill herausgeholt hatte, und es war Polly gewesen, die bei der Bank für ihre Hypothek auf das Haus gebürgt hatte. Wenn Polly nicht gewesen wäre, würde sie noch immer in einem gemieteten Zimmer auf der anderen Seite der Tin Bridge wohnen.
    Aber was war, wenn sie ging, und die verrückte Polin kam wieder?
    Raider konnte ihren Lampenschirm nicht beschützen; er war tapfer, aber er war nur ein kleiner Hund. Wenn er versuchte, sich der verrückten Polin in den Weg zu stellen, würde sie ihm vielleicht etwas antun. Nettie spürte, wie ihr Verstand, gefangen im Schraubstock dieses grauenhaften Dilemmas, ihr zu entgleiten begann. Sie stöhnte abermals.
    Und plötzlich kam ihr die erlösende Idee.
    Den Lampenschirm nach wie vor in den Armen, stand sie auf, durchquerte das Wohnzimmer und die Küche und öffnete dann die Tür an der gegenüberliegenden Ecke. An diesem Ende des Hauses war ein Schuppen angebaut. In der Düsternis zeichneten sich schattenhaft der Holzstapel und ein Haufen Gerümpel ab.
    Eine einzelne Glühlampe hing an einem Kabel von der Decke herab. Es war kein Schalter und auch keine Zugschnur vorhanden; man schaltete sie ein, indem man sie in der Fassung festdrehte. Sie griff danach – dann zögerte sie. Wenn die verrückte Polin im Hintergarten lauerte, würde sie sehen, wie das Licht anging. Und wenn sie sah, wie das Licht anging, dann würde sie genau wissen, wo sie nach Netties Buntglas-Lampenschirm suchen mußte.
    »O nein, so leicht erwischst du mich nicht«, sagte sie fast unhörbar und tastete sich am Kleiderschrank ihrer Mutter und am Bücherschrank ihrer Mutter vorbei bis zum Holzstapel. »O nein, Wilma Jerzyck. Ich bin schließlich nicht blöde. Bilde dir das nur nicht ein.«
    Nettie drückte den Lampenschirm mit der linken Hand an ihren Bauch und benutzte die rechte dazu, das Gewirr alter, schmutziger Spinnweben vor dem einzigen Fenster des Schuppen herunterzureißen. Dann lugte sie in den Hintergarten hinaus, und ihre Augen wanderten von einer Stelle zur anderen. So blieb sie fast eine Minute lang stehen. Nichts regte sich im Hintergarten. Einmal glaubte sie zu sehen, daß die verrückte Polin in der hinteren Ecke des Gartens kauerte, aber nach genauerem Hinsehen war sie überzeugt, daß es nur der Schatten der Eiche im Garten der Fearons war. Die unteren Äste des Baumes ragten in ihren Garten hinein. Sie bewegten sich ein wenig im Wind, und deshalb sah der Schattenfleck dort hinten einen Augenblick lang aus wie eine verrückte Frau (eine verrückte Polin , um genau zu sein).
    Raider winselte hinter ihr. Sie drehte sich um und sah ihn an der Schuppentür stehen, eine schwarze Silhouette mit zur Seite geneigtem Kopf.
    »Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß – aber wir werden sie hereinlegen. Sie hält mich für blöde. Nun, da hat sie sich getäuscht.«
    Sie ertastete sich ihren Rückweg. Ihre Augen hatten sich der Düsternis angepaßt, und sie kam zu dem Schluß, daß es gar nicht nötig war, die Glühlampe einzuschalten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete auf dem Oberteil des Kleiderschrankes herum, bis ihre Finger den Schlüssel fanden, mit dem die Tür an der linken Seite auf- und zugeschlossen werden konnte. Der Schlüssel für die Schubladen war seit Jahren verschwunden, aber das machte nichts – Nettie hatte den Schlüssel, den sie brauchte.
    Sie öffnete die Tür und deponierte den Lampenschirm auf einem Bord, mitten zwischen Staubflocken und Mäusedreck.
    »Er hätte es verdient, an einem besseren Ort untergebracht zu werden, das ist mir klar«, sagte sie leise zu Raider. »Aber hier ist er sicher , und darauf kommt es an.«
    Sie steckte

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