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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hatte. Sie stellte einen Vogel dar – einen Phoenix, vermutete Cam –, der sich mit ausgebreiteten Schwingen aus dem Teich erhob.
    Irgendwo in seinem Hinterkopf spürte er ein leichtes Brennen, und er dachte an Jamie MacDonalds freiwilliges Geständnis, das er auf Geheiß der Staatsanwältin noch einmal durchgelesen hatte, um sich auf die Verhandlung vorzubereiten. In dessen Verlauf erzählte Jamie, daß er irgendwo während eines Urlaubs mit seiner Frau eine Eisskulptur gesehen hatte, die nur noch eine Hülle ohne jedes Leben darstellte – und wie sehr sie Maggie geglichen hatte.
    Mia verschränkte ihre behandschuhten Finger mit seinen nackten. »Du denkst gar nicht ans Skilaufen«, stellte sie fest.
    Cam schüttelte den Kopf. »An Jamie«, gab er Auskunft, als würde das alles erklären. Er sah Mia in die Augen. »Glaubst du, daß es falsch von ihm war, seine Frau umzubringen, wenn er doch gewußt hat, daß sie sowieso sterben würde?«
    Mia wandte den Blick ab. »In der Zeitung stand, daß sie ihn darum gebeten hat. Also, für mich ist das etwas anderes.«
    »Ich weiß«, pflichtete er ihr bei. »Ich rede nicht davon, ob er schuldig ist. Aber was hättest du an seiner Stelle getan?«
    Mia blickte Cam an, dessen Wange so stoppelbärtig und dessen schneller Atem so gesund war. Sie drückte seine Finger, nur um zu spüren, wie er den Druck erwiderte. Mia wußte am allerbesten, daß es keinerlei Bedeutung hatte, was man in einer bestimmten Situation tun würde, solange man sich nicht tatsächlich darin befand.
    Würde sie Cam töten, wenn er sie aus einem guten Grund darum bat? Wahrscheinlich nicht. Dazu war sie zu egoistisch. Seit jeher. Ihre Eltern hätten ohne zu zögern getan, was Jamie zur Last gelegt wurde. Natürlich wären sie dabei noch weitergegangen.
    -Was sie auf die Frage brachte, die ihrer Meinung nach jeder Jamie MacDonald stellen sollte. Wie konnte er danach weiterleben?
    »Glaubst du, daß es richtig von ihm war?« wiederholte Cam. Mia biß sich auf die Lippe. »Ich glaube, wenn man liebt, verliert man sich selbst«, antwortete sie vorsichtig. »Meine Mutter verursachte ständig irgendwelche Brände in der Küche, weil sie zwischendurch meinen Vater neckte oder küßte und darüber alles andere vergaß.« Sie hielt inne. »Und ich glaube nicht, daß sie mich so oft alleine lassen wollten, wie sie es getan haben; aber sie waren derart damit beschäftigt, Mann und Frau zu sein, daß sie gar keine Zeit hatten, auch Vater und Mutter zu sein.«
    Sie kam Cam näher, bis ihre Worte direkt auf seine Lippen fielen. »Ich kann nicht für Jamie sprechen«, meinte sie. »Aber ich habe begriffen, daß man möglicherweise Dinge tut, die man eigentlich nicht tun dürfte – und zugleich weiß, daß es nicht falsch ist.«
    Sie wandte den Kopf ab und kuschelte sich eng an ihn. Ein einzelner Tropfen rann an der Seite der Eisskulptur herab und bohrte ein Loch in den Schnee am Rande des Weihers. Cam vergrub sein Gesicht in Mias Locken und fragte sich, wieviel Zeit ihnen noch blieb.
    »Ich will Ihnen nichts versprechen«, sagte Graham und nahm gelangweilt einen Bissen von seinem Steaksandwich. »Sie sollen bloß wissen, was auf dem Spiel steht.«
    Jamie starrte niedergeschlagen auf ein Truthahnsandwich. Die Mayonnaise sickerte durch das Weißbrot, das ohnehin zu dünn geschnitten war. Er drückte mit dem Finger auf die Mitte und beobachtete, wie das Dressing hervorquoll. »Ich hätte nicht gedacht, das mal von Ihnen zu hören.« Er blickte auf. »Wie lange ist das jetzt her? Drei, vier Monate? ›Ich hole Sie da raus, Jamie‹«, imitierte er in Falsettstimme.
    Graham schüttelte den Kopf. »Wer weiß?« sagte er. »Mein möglichstes werde ich tun.«
    Jamie sah ihn wütend an. »Oder ich kriege zwanzig Jahre bis lebenslänglich!«
    Graham wollte schon protestieren, überlegte es sich aber anders und nahm einen Bissen von seinem Sandwich. Jamie war nicht auf den Kopf gefallen, und er hatte an jenem Tag die Auswahl der Geschworenen mitverfolgt. Er hatte gesehen, wie Graham den Kopf senkte, als alles vorüber war, so als sei ihm die Last auf seinen Schultern plötzlich zu schwer. Ihm war aufgefallen, wie Richter Roarkes Blick ihn jedesmal musterte, wenn der Richter glaubte, er merke es nicht – fast wie der eines Wissenschaftlers, der ein seltenes Insekt untersucht.
    Jamie schob sein Sandwich von sich. Er dachte daran, daß der Schnee jetzt knietief auf Maggies Grab lag. Die frische Luft würde ihm fehlen, dachte er.

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