In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
verstehen könne, inwiefern ein Psychiater ihm vor Gericht von Nutzen sein solle. Ich erläuterte ihm, daß es, ganz abgesehen von der Verhandlung, sinnvoll sei, wenn jemand, der ein solch traumatisches Erlebnis durchgemacht hatte wie er, seine Gefühle mit einem professionellen Gesprächspartner diskutierte. Worauf er meinte, daß niemand außer seinem Anwalt glaube, er habe ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten.
Ich bat ihn, von seiner Kindheit, seiner gegenwärtigen Lebenslage und der Beziehung zu seiner Frau zu erzählen, um weitmöglichst zu verstehen, was in ihm während der Abschiedsphase vorging. Ich sagte, ich wolle irgendwann genauer über die Tage vor Maggies Tod sprechen, allerdings müsse das nicht unbedingt heute geschehen.
Die meiste Zeit sprach er über seine große Liebe. Er sagte, er glaube, man würde sich nur ein einziges Mal wirklich verlieben, und er habe das Glück gehabt, dieses Gefühl elf Jahre lang spüren zu dürfen. Auf direkte Nachfragen vermochte er seine Frau sehr detailliert zu beschreiben, angefangen von der Form ihrer Brauen über die Länge ihrer Fingernägel bis zu der Position ihrer Muttermale. Wenn er über Maggie sprach, lächelte Jamie immer wieder und stand gelegentlich auf, um ans Fenster zu treten, als würde er sie dort erwarten.
Mehrmals wies er darauf hin, daß die Frau, die er getötet hatte, nicht dieselbe Frau gewesen sei, in die er sich verliebt habe. Ich bat um eine ausführlichere Erklärung. Er sagte: »Alle meinen, ich hätte Maggie getötet; doch sie wissen nicht, wie sie früher war. Als wir nach Wheelock kamen, handelte es sich bereits um eine andere Person. « Er schilderte mir eindringlich die Schmerzen, die sie ertragen mußte, angefangen von nächtlichen Halluzinationen bis zu heftigem Erbrechen nach der Chemotherapie. Das jüngste ihrer Gebrechen sei der Übergriff des Krebses auf den optischen Nerv gewesen. Bildhaft demonstrierte er, wie er ihren Schädel mit den Händen hatte zusammenpressen müssen, da sie überzeugt war, das Chaos an Farben in ihren Augen würde ihren Kopf zum Platzen bringen.
Es hat den Anschein, als würde, ungeachtet aller Arztberichte, Jamies Wissen um die Schmerzen, die seine Frau ertragen mußte, von Maggie selbst stammen. Überdies lassen Wesen und Intensität ihrer Beziehung vermuten, daß Jamie tatsächlich emotional dieselben Qualen erlitt, die seine Frau körperlich durchstand.
Auf meine Frage, ob es irgend etwas gebe, das er Maggie nicht habe sagen können, nickte er. »Daß sie sich geirrt hat … als wir darüber sprachen, hat sie gemeint, es wäre besser, sie als die Frau im Gedächtnis zu behalten, die sie früher gewesen war, und nicht als diejenige, die sie inzwischen war. In Wahrheit habe ich jetzt nämlich keine von beiden. «
Jamie betrachtet die Beziehung zu seiner verstorbenen Gattin als etwas Edles und Heiliges. In der Vergangenheit scheint sein Handeln stets darauf angelegt gewesen zu sein, Maggie zu gefallen, was in seiner Zustimmung zu und seiner Mitwirkung bei ihrem Tod endete.
F ÜR G RAHAM M ACPHEE : Ich weiß, was Sie von mir erhoffen, aber in Wahrheit war Jamie sehr verständig und ruhig. Er scheint Reue zu empfinden – nicht über die Tatsache, daß er einen Menschen getötet hat; sondern letztendlich betrog ihn die von ihm idolisierte Frau, indem sie ihn bezüglich der auf sein Leben übergreifenden Verästelungen anlog.
Nicht sein Verstand wurde gebrochen, sein Herz war es.
Demokraten zählten am meisten. Menschen unter dreißig schlugen mit fünf Punkten zu Buche, während Rentner nur einen Punkt erhielten. Juden waren sechs Punkte wert; Protestanten drei; Katholiken einen. Jeder weiterführende Schulabschluß gab einen Extrapunkt.
Fyvel Adams zufolge, der die Computerauswertung der JuryUmfrage durchführte, spielte das Geschlecht keine Rolle bei der Bestimmung des idealen Geschworenen für Jamies Prozeß. Genausowenig wie die Abstammung. Insgesamt konnte es ein Geschworener auf zwanzig Punkte bringen. Niemand mit weniger als fünfzehn Punkten sollte in der Jury sitzen dürfen.
Graham und Audra hatten sich vor einer Stunde mit Richter Roarke getroffen und vereinbart, vierzehn Geschworene auszuwählen, worunter sich zwei Ersatzleute befanden. Roarke erinnerte Graham an das Wortverbot, das Audra beantragt hatte. »Oh«, zischte Graham der stellvertretenden Staatsanwältin ins Ohr, »Sie meinen das ›M‹-Wort?«
Als Roarke ihm einen finsteren Blick zuwarf, obwohl er unmöglich
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