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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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davonjagten, schwanzwedelnd und immer schneller werdend, je intensiver sie den schwachen Duft der Freiheit witterten.
    Am Montagmorgen um 8 Uhr 05 lag Graham MacPhee in tiefem Schlaf über einem Stapel staubiger Gesetzbücher. Der Rücken des obersten Bandes hatte eine Rille in seine Wange gegraben, und seine Augen waren, als sie sich langsam öffneten, rot und verklebt. Er hatte fast die ganze Nacht dazu gebraucht, sein Eröffnungsplädoyer vorzubereiten. Heute war zwar Montag, jedoch Martin-Luther-King-Day; deshalb fanden keine Gerichtsverhandlungen statt. Das verschaffte ihm, Jamie und allen Beteiligten eine Gnadenfrist von einem Tag.
    Er setzte sich auf und nahm einen langen Schluck aus einer Zweiliterflasche Cola, mit dem er den metallischen Geschmack in seinem Mund wegzuspülen trachtete. Wer ihn an diesem Morgen sah – schuhlos, unfrisiert, übernächtigt –, würde ihn morgen am Tisch der Verteidigung nicht wiedererkennen.
    Eine Frau trat vor seine Kunststofftafel. »Hi«, sagte er und fragte sich, wie zum Teufel sie hereingekommen war; schließlich hatte er die Bürotür noch gar nicht aufgeschlossen »Können Sie mir sagen, wer Sie sind?«
    Beim Klang seiner Stimme berührte sie nur die Tafel, auf der untereinander die fünf Tage vor Jamies Verhaftung aufgelistet waren. Ihre Hand ging einfach hindurch. Dann legte sie, sanfter diesmal, eine Fingerspitze auf eines der freien weißen Felder, die für die letzte Nacht vor dem Verhängnis standen.
    Mit klopfendem Herzen schoß Graham hoch. Er machte einen Schritt auf die Frau zu, die sich daraufhin zu ihm umdrehte.
    Er hatte die Polaroids des Leichenbeschauers gesehen, ebenso wie die Bilder, die Allie aus Jamies Haus in Cummington mitgebracht hatte. Das war Maggie MacDonalds Antlitz.
    Als Graham etwas zu sagen versuchte, drang kein Laut aus seinem Hals. Er rieb sich die Augen, doch das Bild löste sich nicht auf. Er dachte an Dr. Harrison Harding und fragte sich, ob es sich hierbei wohl um eine psychotische Episode handelte.
    Maggie fuhr mit der Hand über das ins Auge springende Loch in Grahams Verteidigungsstrategie, über den einzigen Zeitraum vor Maggies Tod, für den es keine Belege gab. Und so schnell, wie sie gekommen war, war sie plötzlich verschwunden.
    Graham trat an die Tafel. Er streckte eine Hand aus, um die Stelle zu berühren, auf der Maggies Finger gelegen hatte. Statt eines blanken weißen Feldes leuchtete dort ein Fleck, ein Fingerabdruck. Ein unmißverständliches Zeichen in dunkelroter Tinte oder vielleicht Herzblut.
    Um 8 Uhr 35 am Montag morgen war Ellen MacDonald draußen, um ihr tägliches Laufpensum zu absolvieren. Wenn sie von ihrem Haus aus nach Süden lief und eine Schleife um den Park und die Bücherei zog, direkt am Wheelock Inn vorbei, hatte sie eine Strecke von gut drei Kilometern zurückgelegt. Wenn sie sich besonders fit fühlte, konnte sie es in einer flotten halben Stunde schaffen.
    Sie hatte ihren Walkman auf und hörte ein Enya-Tape. Ihr Jogginganzug bestand aus Naturfasern. Ihre Turnschuhe gestatteten es ihren Füßen, frei zu atmen.
    Am Wheelock Inn löste sich ein Schnürsenkel. Sie kauerte nieder, um ihn neu zu binden, und ging dabei ungewollt hinter einer schmelzenden Schneewehe in Deckung. Von diesem Beobachtungsposten aus sah sie den Zivilstreifenwagen, den Cam normalerweise fuhr, auf den Parkplatz des Wheelock Inn einbiegen.
    Ellen machte kehrt und rannte heimwärts, ehe sie noch mehr mitbekommen konnte.
    Um 8 Uhr 45 teilte man Cam mit, daß Mia Townsend nicht mehr im Wheelock Inn zu Gast sei. Er erstickte den Drang, den Manager an der Kehle zu packen und ihn zu schütteln, bis er eine genauere Erklärung abgab; statt dessen bat er ihn ganz ruhig, noch einmal nachzusehen. »Sie müssen sich irren«, sagte er. »Da liegt bestimmt ein Mißverständnis vor.«
    Sowie Cam in die Lobby getreten war, hatte der Manager – den sie schon vor Wochen bestochen hatten, um seine Diskretion zu gewährleisten – ihn zu sich gerufen. Ms. Townsend habe ihre Rechnung beglichen und sei heute früh abgereist, erklärte dieser Mensch, und zog dabei ihre Quittungskopie aus einem kleinen Stapel. Cam erkannte Mias Unterschrift, dieselbe krakelige Handschrift, mit der sie ihn und sich vor wenigen Tagen in einer verschwiegenen Pension als Mann und Frau eingetragen hatte.
    Während Cam die Treppe hinaufstapfte, fiel ihm ein, daß er heute keine Zeit für so ein Hickhack hatte. Er mußte zu einem echten Seminar, diesmal über

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