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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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erklärte sie, sei die Hölle aus dem Empfinden hervorgegangen, daß manche Menschen in diesem Leben für ihre Sünden nicht bestraft werden und deshalb im nächsten dafür büßen sollten.
    Sie stand vorne auf einem kleinen Podium, das jemand aus der Grundschulaula hergefahren hatte. »Die Juden hatten die Gehenna«, sagte sie, »benannt nach einer Müllhalde in der Nähe von Jerusalem, wo die Tierkadaver verbrannt wurden. Im Neuen Testament ist die Rede von einem Feuersee und dann absoluter Düsternis.« Es erfolgte eine bedeutungsvolle Pause. »Und 1990 berichtete eine Boulevardzeitung über eine sowjetische Bohrmannschaft, die bei der Suche nach Öl auf die Hölle gestoßen sei. Als die Bohrarbeiter die Asche und den Rauch rochen und die Schreie der Insassen hörten, versiegelten sie das Bohrloch wieder.«
    Jedes Schulkind konnte einen feixenden, zähnefletschenden Teufel beschreiben und seine Feuer- und Glutgrube. Die Theologie nun, so meinte Verona, postuliere seit neuestem, daß eine Hölle zwar existiere, jedoch nicht an einem festen Ort.
    »Wir glauben nicht mehr, daß die Menschen in das Inferno geschickt werden.« Sie hielt inne, um einen Schluck aus ihrem Wasserglas zu nehmen. »Damit wäre Gott eine Art schrecklicher Strafrichter. Statt dessen sehen wir die Hölle als eine Entscheidung, die die Menschen selbst für das Leben nach dem Tode treffen. Wer während seines Lebens meint, Gott nicht zu brauchen, wird bis in alle Ewigkeit ohne Ihn auskommen müssen.«
    Obwohl Jamie nicht zu Verona MacBean hatte gehen wollen, obwohl er nicht einmal den sicheren Hafen hatte verlassen wollen, den Angus MacDonalds Heim ihm bot, merkte er, wie ihre Worte ihn völlig in Bann zogen. Und als sie von dem allgemein verbreiteten Bild der Hölle mit ihren Danteschen Kreisen und brennenden Mauern zu sprechen begann, sah er plötzlich Maggie vor sich. Sie kuschelte sich mitten in der Nacht ins Bett, so wie immer. Jede Nacht wachte sie mindestens ein- bis zweimal auf und mußte pinkeln gehen; sie sagte immer, sie hätte eine Kleinmädchenblase. Wenn sie ins Schlafzimmer zurückkam, bibberte sie regelmäßig vor Kälte. Dann rutschte sie unter die Decke und drückte ihre Eisfüße an Jamies Waden, woraufhin er sie an sich zog, mit ihrem Rücken an seinem Bauch. »Du glühst ja«, flüsterte sie oft, »als ob du in Flammen stehst.« Während er sich auf die weiche Rundung ihres Hinterns konzentrierte, die sich gegen sein Geschlecht preßte, und ihr selbstlos seine ganze Wärme schenkte, schlief er wieder ein und kuschelte sich nun seinerseits an Maggie, um von ihr gewärmt zu werden.
    Er stimmte nicht unbedingt mit Verona MacBeans Vision der Hölle überein. Vielleicht war die Sache viel einfacher, als die Theologen zu glauben schienen. Man wußte, daß man verdammt war, wenn man morgens aufwachte und mit einem schmerzhaften Stich begriff, immer noch am Leben zu sein. Man wußte, daß man verdammt war, wenn man sich abends schlafen legte und ununterbrochen auf Armeslänge von sich entfernt die Liebe seines Lebens sah, die jedesmal, wenn man ihr Gesicht berühren wollte, verschwand wie ein Spiegelbild in einem Teich.
    Er drehte sich zu Allie um, die reglos und hingebungsvoll der Lesung lauschte. Gestern war sie zu seiner moralischen Unterstützung ins Gericht gekommen; das stand fest, und auch, daß sie Cam den Grund ihres Kommens nicht verraten hatte. Bestimmt ahnte ihr Mann nicht, daß sie in diesem Augenblick neben Jamie saß. Nicht daß Jamie ihr das zum Vorwurf gemacht hätte – er verstand diese Art von Beziehung vielleicht besser als jeder andere. Etwas zu verschweigen war viel einfacher als einzugestehen, daß man gegen die Wünsche des Menschen handelte, den man zum Idol erhoben hatte.
    Und plötzlich, mitten in der öffentlichen Bücherei von Wheelock, fügte sich das Puzzle zum Bild. Jamie begriff, warum er fähig gewesen war, Maggie zu töten. Immer wieder hatte er sich in den schlaflosen Nächten eingeredet, daß er einfach alles getan hätte, worum Maggie ihn gebeten hätte; daß dies das Wesen der Liebe sei. Aber allmählich ging ihm auf, daß er die Tat gewollt hatte, und zwar aus einem absolut selbstsüchtigen Grund: Er wollte sie nicht krank und schmerzgequält und erniedrigt erleben, denn so verkraftete er die Erinnerung an sie nicht. Wenn sie sich nach der Chemotherapie übergeben mußte, hatte er ihr den Kopf gehalten; er hatte die Narbe geküßt, wo einst ihre Brust gewesen war; er war ein Mustergatte statt

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