In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Tötung gewesen war, desto wahrscheinlicher konnte der Angeklagte das Gericht als freier Mann verlassen. Jamie hatte ein Kissen benutzt; sanfter konnte man kaum jemanden töten. Aber Maggie war noch Minuten vor der Tat imstande zu gehen, zu lachen, zu reden.
Graham kippte den Rest seines Biers hinunter und stellte die Flasche mit dem Hals nach unten auf die polierte Schreibtischplatte. Wie die Katze um den heißen Brei schlich er um die Wahrheit herum, die plötzlich deutlich vor ihm zu stehen schien, so als wäre sie in die Gestalt eines Aasgeiers geschlüpft, der draußen vor seinem Fenster hockte. Jamie MacDonald hatte seine Frau getötet, weil sie sterben würde, weil sie Schmerzen hatte und weil sie schlichtweg nicht länger leiden wollte.
Eine Tötung aus Mitleid war ein zu unsicherer Boden, um ihn als Verteidigungsgrundlage zu benutzen. Man konnte sich nicht darauf verlassen, daß die Geschworenen für einen Freispruch plädierten. Und die Staatsanwälte argumentierten doppelzüngig, daß Euthanasie zwar eine Gnade sein könne, es darum aber keineswegs gerechtfertigt sei, das Gesetz zu brechen.
Als Graham sich für eine Laufbahn als Anwalt entschied, war ihm bewußt gewesen, daß es hier nicht darum ging, über moralische Werte zu urteilen, sondern darum, Freisprüche zu erreichen. Sein Vater hatte Mandanten verteidigt, die schlimmer zum Himmel stanken als Kanalratten, und trotzdem seine Prozesse gewonnen, einfach weil er dafür bezahlt wurde. Doch Jamies Verteidigung auf der Wahrheit aufzubauen? – Das bedeutete nichts anderes, als die Gesetze selbst anzuzweifeln.
Graham hegte keine feste Meinung zur Euthanasie. Er hatte noch nie eine Frau so geliebt, daß er auch nur auf die Frage kam, welche Gedanken Jamie durch den Kopf gegangen sein mochten, bevor er sie schließlich umbrachte. Er versuchte, die Angelegenheit von Maggies Warte aus zu sehen – wenn er zu einem solchen Leben verurteilt wäre, würde er dann wollen, daß ihn jemand davon erlöste? War dies das gleiche wie der Wunsch, daß jemand den Stecker rauszog, wenn man nur noch vor sich hin vegetierte?
Nach drei Rolling Rocks, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und mit einem Körper, in dem jede Zelle vor Gesundheit strotzte, war über solche Fragen leicht nachzusinnieren. Für Antworten darauf fehlte ihm allerdings die Erfahrung.
Maggie war nicht viel älter gewesen.
Graham atmete tief durch und begann, Kreise um seine Notizen auf der Speisekarte zu ziehen. Gab es gewisse Variablen, bestimmte Augenblicke, in denen man den Tod nicht mehr durch das Gesetz erfaßte? Welche Gesetze konnte man hier überhaupt anführen, wo es doch so viele verschiedene Punkte zu bedenken gab? Eine Tötung aus Mitleid definieren zu wollen, war für Graham wie eine Zwiebel zu schälen. Bei jedem neuen Aspekt stieß man auf eine weitere Schicht und noch eine weitere, so daß man ständig weiterschälen und etliches ausklammern mußte, bis schließlich nichts mehr übrig blieb.
Er warf die leere Flasche in den Mülleimer und knipste die Schreibtischlampe aus. Nur nichts überstürzen, sagte er sich. Du hast Zeit.
Doch als er die Bürotür hinter sich abschloß, begann ein Gedanke in ihm zu nagen. Du hast Zeit, lautete dieser, Jamie nicht.
Cam dachte an die Immersionstechnik beim Fremdsprachenlernen, bei der sich die Leute ausschließlich in der jeweiligen Sprache unterhielten, sich im Ursprungsland derselben aufhielten und im Schlaf Sprachcassetten neben ihrem Kopf ablaufen ließen. Er kannte Menschen, die diese Technik erfolgreich angewendet und die fremde Sprache lieben gelernt hatten. Und mit genau diesem Hintergedanken nahm er sich am nächsten Tag frei und fragte seine Frau, ob sie mit ihm angeln gehen wollte.
Seit drei Jahren hatte er sie nicht mehr gefragt; aber er hoffte, wenn er den Tag von morgens bis abends in Allies Gegenwart verbrachte, nur ihr zuhörte und zuschaute, dann endlich Mia Townsend aus seinen Gedanken zu verbannen.
Cam lehnte eben die Angelrute, die schon seinem Großvater gehört hatte, ans Treppengeländer, als Allie oben auf dem Treppenabsatz erschien. Sie trug ein verblichenes Jeanshemd und ausgebeulte Khakihosen, die sie bis zu den Knien hochgerollt hatte. Auf der obersten Stufe ließ sie sich nieder, um sich ein Paar durchlöcherte Stadtschuhe anzuziehen. »Wir werden doch bestimmt naß, oder?« fragte sie, während sie die Schuhe zuband. »Ich denke, nachdem Arbuth sich die hier vorgeknöpft hat, sind sie sowieso hinüber.«
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