In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
fand aber keine Worte. Watchell begleitete sie durch Jamies Vorgarten. »Da wären wir!« Er wartete, bis Allie die Tür aufgeschlossen hatte. »Rufen Sie auf jeden Fall an, wenn Jamie heimkommt.« Er lächelte. »Wir wollen doch hören, ob alles in Ordnung ist.«
Am Sonntag hatte Cam fest vor, in die Messe zu gehen. Er legte seinen schönsten Anzug samt Krawatte im Tartanmuster an und parkte an einer Stelle, die nicht so weit von der Kirche entfernt war, daß es lächerlich gewirkt hätte. Er unterhielt sich mit seiner Großtante Chloe und half seiner im neunten Monat schwangeren Streifendienstleiterin, den Hügel in der Ortsmitte hinaufzuwatscheln. Jedem, der ihn danach fragte, erklärte er, daß Allie in einer Familienangelegenheit verreist war, ohne näher darauf einzugehen. Als er sah, wie Jamie MacDonald persönlich dem alten Angus die Stufen zur Kirche hinaufhalf, lächelte er sogar.
Er wollte gereinigt werden. Als Kind wurde er immer dazu gezwungen, sonntags in die Messe zu gehen. Die meiste Zeit hatte er dabei an seinen neuen Basketball gedacht oder an das Eishockeymatch drüben auf dem Dundee-Teich, das für mittags vereinbart war; trotzdem hatte er sich beim Verlassen der Kirche jedesmal ein wenig gelöster gefühlt, ein bißchen leichter geatmet. Damals machte er sich noch keine Gedanken über Spiritualität und Religion, sondern nahm die Kirche schlicht als phantastische Maschine wie aus einem Bilderbuch, in die man auf der einen Seite hineinging und auf der anderen vollkommen verändert wieder herauskam – in einer anderen Farbe, einer anderen Form oder mit neuen Ideen im Kopf.
Am vergangenen Samstag war Cam nicht zur Beichte gegangen. Es widerstrebte ihm. Er spürte, daß seine Gefühle für Mia nur schwächer würden, wenn er darüber sprach, daß ihre Farbe und Intensität verblaßten, sobald er das Geschehen in Worte faßte.
Cam trat durch das Hauptportal der Kirche und bekam einen Zettel mit dem Ablauf der Messe in die Hand gedrückt. Doch dann stauten sich die Kirchgänger, die einen Platz in den Kirchenbänken suchten, und Cam ging wieder nach draußen, in der Hoffnung auf ein paar Augenblicke in der kühlen Herbstluft.
Er stand auf der obersten Stufe, die durch jahrelange fromme Benutzung in der Mitte durchgetreten war. Zu seinen Füßen lag seine Stadt. Seine, so wie es zuvor die seines Vaters und seines Großvaters gewesen war. Jede Straße in Wheelock und jeden Einwohner kannte er. Er wußte, welcher Ladenbesitzer an der Main Street als erster nach einem Schneesturm den Gehweg freischaufelte – welche Jungs er in den längsten, wärmsten Sommernächten beim Biertrinken hinter der Tribüne an der High-School erwischen würde.
Sein Blick wanderte von links nach rechts, vom Café zur Post und zur Polizeistation, wo Zandy eben die Tür aufschloß. Er blickte zum Fuß der Treppe und entdeckte Mia.
Aha – sie war also katholisch; dieser Gedanke dröhnte dumpf in seinem Kopf. Er kannte ihre Allergie gegen Schokolade, die Kälteempfindlichkeit ihrer Haut und das kleine, rechteckige Muttermal auf ihrer rechten Hüfte; aber er wußte nichts über ihre Religion. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wo sie geboren war oder wie ihr zweiter Vorname lautete.
Seine gesamte Willenskraft vermochte ihn nicht davon abzuhalten, die Treppe hinabzusteigen.
Bevor er unten ankam, war sie verschwunden. Cam streckte die Hand aus, wohl wissend, daß die Leute ihn beobachteten und zu flüstern begannen. Er faßte nur dünne, kalte Luft. Und dann kehrte er zurück zu seinem Wagen und dachte, daß er eigentlich in der Messe nichts zu suchen hatte.
Mia fühlte sich grauenhaft, daher wußte sie, daß sie verliebt war. Ihr Kopf schwamm, ihre Schultern schmerzten, ihre Haut schien nicht mehr zu passen. Sie brachte Stunden damit zu, Blumenarrangements ohne jeden Farbtupfer zu fertigen. Im Hotel schaltete sie den Fernseher ein und sah sich Wiederholungen von The Love Boat an, während Kafka eingerollt auf ihrem Schoß schlummerte.
Sie wünschte, sie wäre nie nach Wheelock gekommen.
Andererseits konnte sie nicht begreifen, daß sie so viele Jahre vergeudet hatte, bevor es sie hierher verschlug.
Doch was sie am meisten an Cameron MacDonald liebte, war nicht sein Aussehen im flackernden Kerzenlicht oder der Anblick seines glatten Haars, wenn es sich mit ihrem verschlang und vermischte. Er zog sie vor allem durch das an, wofür er stand: seine festen Wurzeln, seine Nische, der unangefochtene Respekt. Cams Platz in der
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