In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
»Scheiße!«
Er ging nach hinten und blieb vor dem kleinen Spiegel in der Toilette stehen. An einer Ecke war Glas abgesprungen, und das Licht war trübe, doch Cam konnte ohne weiteres die starren Züge seines Gesichts ausmachen.
Da gab es keinen Kommissar, keinen Clanchef, keinen Ehemann. Er sah keinen Familienvater, keinen guten Bürger, niemanden, der Respekt verdiente.
Wut glühte in seinen Augen, kämpferisch hielt er sich aufrecht, um jeden herauszufordern, der ihn für etwas zu kritisieren wagte, das er ein einziges Mal in seinem ganzen verdammten Leben tun wollte. Er sah die Röte auf seinen Wangen und das Brennen in seinen Augen und erkannte beides als Zeichen von Verliebtheit.
Lieber würde er sich den linken Arm abschneiden lassen, als daß er durch den Vorhang in den Verkaufsraum träte und Mia bäte zu gehen. Er sagte sich, daß er nicht ändern konnte, was bereits geschehen war.
Dann trat Cam aus der Toilette und warf einen Blick auf den Schreibtisch, wo Allie ein gerahmtes Foto aufgestellt hatte, das sie beide in den Sanddünen von Nantucket kniend zeigte. Er nahm das Bild, rieb mit dem Daumen über das Glas und gab sich alle Mühe, seinen Blick nicht auf Allie, sondern nur auf sich selbst zu richten. Stirnrunzelnd stand er über dem Foto. Bildete er sich das nur ein, oder wirkte sein Lächeln gezwungen?
Während der vergangenen drei Tage hatte er nicht an Allie gedacht; das gehörte im Moment nicht her. Aber sie würde heimkommen – er hatte ihr bestimmt nicht weh tun wollen –, trotzdem liebte er Mia und konnte nicht alles haben.
Mia sollte keinesfalls der unausweichlich folgenden Konfrontation ausgesetzt werden. Wie schon einmal stellte er sich vor, mit Mia auf einem Katamaran in der heißen Sonne zu sitzen, und begriff, daß Mia, auch wenn er an diesen Ort und an die Umstände gekettet blieb, frei wie der Wind war.
Genau das machte sie so attraktiv.
Wenn man jemanden liebt, wirklich liebt, muß man ihn dann ziehen lassen?
Ganz unvermittelt fiel Cam Jamie MacDonald ein.
Cam spürte, wie der Raum auf ihn einstürzte, und schleuderte das Bild wieder auf Allies Schreibtisch, so daß das Glas im Rahmen platzte. Er zog seine Hose vom Sofa und stieg hinein, knöpfte sein Hemd zu. Gerade stopfte er es in den Bund, als Mia die Tür öffnete.
Sie brachte den Winter mit herein, in lose wehenden Fäden rings um ihren dünnen Parka. »Ich habe Schinken und Käse«, sagte sie, »und einmal Bolognese.«
»Es geht nicht«, sagte Cam.
Mia ließ die Papiertüte fallen und machte einen Schritt auf ihn zu.
Er hob beide Hände. »Es geht nicht«, wiederholte er mit brechender Stimme. Er ließ nicht zu, daß sie ihn beim Vorbeigehen berührte, doch den Bruchteil einer Bewegung später folgte sie ihm wie ein Schatten, den er unmöglich abschütteln konnte.
Watchell Bud Spitlick und seiner Frau Marie hatte früher The Pickle Barrel gehört, ein Ramschladen im Zentrum von Cummington. Als die Spitlicks sich letztes Jahr zur Ruhe setzten, packten sie all ihre Waren ein, um ihr seit fünfundvierzig Jahren ausgeübtes Gewerbe in ihrem Heim weiterzuführen.
Allie saß neben einem riesigen weißen Kühlschrank, der nicht mehr funktionierte, sie aber dennoch mit dicken Lettern aufforderte, Moxie zu trinken. In ihrer Linken hielt sie ein beschlagenes Glas Eistee; mit der Rechten streichelte sie eine blinde Tigerkatze, die sich ihren Weg durch den Raum suchte, indem sie gegen die Möbel rumpelte. Watchell lächelte ihr von einem rissigen Ledersessel aus zu; Marie thronte ungezwungen auf einem Stapel Stoffballen.
»Eine beeindruckende Sammlung«, meinte Allie höflich.
»Tja.« Watchell nickte. »Man weiß nie, was die Leute brauchen könnten.« Er strahlte sie an.
Marie tippte ihm aufs Knie. »Bud, Lieber«, sagte sie, »Mrs. MacDonald ist nicht hergekommen, um übers Geschäft zu sprechen.« Sie bedachte Allie mit einem Stirnrunzeln. »Weshalb sind Sie eigentlich gekommen, meine Liebe?« Bevor Allie antworten konnte, schlug sich Marie leicht an die Schläfe. »Wie dumm von mir! Sie müssen eine Verwandte von Jamie sein, und er ist nicht zu Hause.« Augenblicklich schoß sie an ein Regal, wo sich Grieß und Gesundheitswässerchen und Pfeifenreiniger stapelten; sie fing an, hinter dem Krimskrams herumzusuchen. »Ich weiß, daß Maggie mir einen Schlüssel gegeben hat; er muß hier irgendwo sein … Weißt du noch, Bud, als wir letzten Sommer die Blumen für sie gegossen haben …«
»Mrs. Spitlick«, fiel
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