In einer Winternacht
einbringen würde. Wenigstens hatte Lilly den Brief nicht gefunden, der an Stars Deckchen befestigt gewesen war. Lenny hatte ihn behalten, für den Fall, daß ihn später einmal jemand nach der Herkunft des Kindes fragen würde. So konnte er beweisen, daß er das Mädchen nicht entführt hatte.
Er hatte den Brief in einen Spalt zwischen das oberste Regal und die Rückwand seines Schrankes geklemmt. Dort würde Lilly ihn auch dann nicht erreichen, wenn sie mit dem Staubwedel die Regale saubermachte.
Achselzuckend drehte Lenny sich um und ging in die Küche, um in Kühlschrank und Vorratsschrank nachzusehen, was es zum Frühstück gab: Es war kaum etwas da. Offenbar war Lilly in letzter Zeit nicht beim Einkaufen gewesen. Er stellte rasch eine Einkaufsliste zusammen, nahm seine Jacke und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Diesmal betrat er den Raum mit einem herzhaften »Guten Morgen. Wie geht es meinen Mädels?« Freundlich erkundigte er sich bei Lilly nach ihrem Befinden, ermahnte Star, ihre Hausaufgaben zu machen, und verkündete, er werde jetzt einkaufen gehen.
Nachdem er seine Einkaufsliste heruntergerattert hatte, sah Lilly ihn argwöhnisch an. Dann aber ließ sie sich erweichen und fügte noch ein paar Dinge hinzu.
Draußen war es bitterkalt, und Lenny bedauerte, daß er keine Mütze aufgesetzt hatte. Er beschloß, sich zuerst in einem Lokal ein anständiges Frühstück zu genehmigen. Von dort aus konnte er auch einen Anruf tätigen, um seinen New Yorker Verbindungsleuten mitzuteilen, daß er ihnen wieder zu Diensten stand. Sicher würden sie sich über diese Nachricht freuen.
Und wenn ich die liebe Tante Lilly erst einmal los bin, werde ich die kleine Star in mein Unternehmen einbinden, überlegte Lenny. Sie wäre eine ausgezeichnete Partnerin, denn niemand würde sie verdächtigen.
Ja, wenn Star und ihr Daddy zusammenarbeiteten, stand einem florierenden Lieferservice nichts mehr im Wege.
A
ls Sondra aus der Kirche floh, spürte sie den Blick des Monsignore im Rücken. Sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, und lief zurück zum Hotel. Dort angekommen, duschte sie, bestellte Kaffee und drückte sich feuchte Waschlappen auf die geschwollenen Augen. Ich muß aufhören
zu weinen, sagte sie sich streng. Ich muß aufhören zu weinen! Das Konzert war sehr wichtig, und sie mußte sich vorbereiten.
Um neun Uhr wurde sie in dem von ihr gemieteten Probenraum in der Carnegie Hall erwartet und sollte fünf Stunden lang üben. Also mußte sie sich zusammennehmen, denn gestern war sie nicht gut in Form gewesen, unkonzentriert und nicht annähernd auf ihrem üblichen Niveau.
Aber wie soll ich an etwas anderes denken als an das Baby? fragte sich Sondra immer wieder. Was ist mit meinem kleinen Mädchen geschehen? Seit sieben Jahren stellte sie sich nun vor, daß ein nettes Ehepaar ihr Baby adoptiert hatte. Leute, die vielleicht keine eigenen Kinder bekommen konnten und das kleine Mädchen liebten und verwöhnten. Aber nun wußte sie nicht, wer das Kind gefunden hatte – oder ob es womöglich sogar spurlos verschwunden war.
Sondra sah in den Spiegel. Eine Katastrophe! stellte sie fest. Ihr Gesicht war gerötet, und sie hatte verschwollene Augen. Dagegen konnte sie nichts unternehmen, doch ihre langen, schlanken Finger griffen schon nach der Make-up-Tube, um wenigstens die Tränenspuren auf der Haut zu kaschieren.
Heute nachmittag gehe ich noch einmal zum Pfarrhaus, nahm sie sich vor, und der Gedanke beruhigte sie ein wenig. Dort hatte sie ihr Baby zuletzt gesehen und dort fühlte sie sich ihm besonders nah. Und wenn sie vor dem Portrait von Bischof Santori betete, spürte sie denselben Frieden, den ihr Großvater vor vielen Jahren in dieser Kirche empfunden hatte. Sondra betete nicht darum, ihr Baby zurückzubekommen, denn sie glaubte, kein Recht dazu zu haben. Sie wünschte sich nur, daß ihre Tochter in Geborgenheit aufwuchs und geliebt wurde. Mehr verlangte sie nicht.
Sie hatte den Pfarrbrief aus St. Clement mitgenommen und holte ihn nun aus der Tasche ihrer Joggingjacke. Ja, um fünf Uhr fand eine Messe statt. Sie würde hingehen, aber ein wenig später kommen. So würde der Monsignore keine Gelegenheit haben, sie anzusprechen. Und kurz vor Schluß würde sie wieder hinausschlüpfen.
Während sie ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenfaßte, fragte sie sich, ob ihre Tochter ihr wenigstens ein bißchen ähnlich sah.
W
ährend Alvirah Tee trank und sich ein großes Stück von Kate
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