In einer Winternacht
ausgeliefert hatte, während die Leute mit seinem hübschen Baby schäkerten. Doch wenn er nach Hause kam, löcherte ihn Lilly jedesmal mit Fragen: »Wo bist du spazierengegangen? Wo warst du mit ihr? Ihr Deckchen riecht nach Rauch. Wenn du sie in eine Kneipe mitnimmst, bringe ich dich um.« Ständig lag sie ihm in den Ohren.
Allerdings wußte er, daß er vorsichtig sein und Lillys Sorgen um das kleine Mädchen zerstreuen mußte. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, daß seine Tante auf den dummen Gedanken kam, Stars Mutter ausfindig machen zu wollen – seine angebliche Freundin, die nach Kalifornien gezogen war.
Durch seine guten Beziehungen hatte er für Star eine gefälschte Geburtsurkunde beschafft. In dem Brief an ihrer Decke hatte gestanden, daß sie irisch-italienischer Abstammung war. Da ich Italiener bin, muß ihre Mutter Irin gewesen sein, hatte Lenny beschlossen und seinen Verbindungsmann gebeten, den Namen der Mutter mit Rose O’Grady anzugeben. Dabei hatte er an das Lied über Rosie O’Grady gedacht, das ihm als Kind gut gefallen hatte. Einer seiner Mitschüler hatte es damals immer gesungen.
Lilly würde ihr blaues Wunder erleben, wenn sie eine Rose O’Grady in Kalifornien suchte, sagte sich Lenny. Der Name ist sehr häufig, und Kalifornien ist ein großer Staat. Doch Nachforschungen konnten trotzdem zu Schwierigkeiten führen. Deshalb beabsichtigte er nicht, es soweit kommen zu lassen. Wenn er Lilly in Sicherheit wiegen wollte, mußte er glaubhaft den liebevollen Vater spielen.
Lenny gähnte, streckte sich, kratzte sich am Schulterblatt und strich sein strähniges, dunkles Haar zurück. Nachdem er Jeans angezogen und sogar an ein T-Shirt gedacht hatte und in seine Turnschuhe geschlüpft war, ging er den Flur entlang zum Schlafzimmer seiner Tante.
Die Tür stand offen, und er konnte sehen, daß Lilly wie erwartet im Bett lag. Das Zimmer war ordentlich, wenn auch ein wenig überfüllt, seit Stars schmale Pritsche zwischen Bett und Wand geklemmt worden war.
Lenny wartete in der Tür. Star hatte ihm den Rücken zugekehrt und sagte Lilly ihren Text aus dem Krippenspiel auf. Da Lilly ihn nicht bemerkt hatte, wich er lautlos in den Flur zurück. Star saß im Schneidersitz, kerzengerade und mit verrutschter Haarspange auf dem Bett und verkündete: »Oh, Joseph, es macht nichts, daß man uns in der Herberge nicht aufnimmt. Der Stall wird uns Unterschlupf bieten, und bald wird auch das Kind kommen.«
»Bella, bella Madonna«, lobte Lilly. »Die heilige Muttergottes wird sehr froh sein, daß du sie spielst.« Seufzend nahm sie Stellinas Hände. »Und heute fange ich an, ein weißes Gewand und einen blauen Schleier für dich zu nähen, die du im Krippenspiel tragen kannst, Stellina cara… «
Lilly sieht aus, als gehöre sie ins Krankenhaus, dachte Lenny besorgt. Ihre Haut war grau, und er erkannte Schweißperlen auf ihrer Stirn. Er wollte sich schon nach ihrem Befinden erkundigen, hielt aber inne und verzog das Gesicht, als sein Blick auf die Kommode fiel. Sie war bedeckt mit unzähligen Heiligenbildern und kleinen Statuen, die die heilige Familie und den heiligen Franz von Assisi darstellten. Daran war er gewöhnt – Lilly war schon immer sehr gläubig gewesen –, doch er bedauerte noch immer, daß Lilly vor vielen Jahren den Silberkelch gefunden hatte. Zum Glück hatte er den Diamanten bereits entfernt gehabt.
Damals hatten die Zeitungen wegen des gestohlenen Kelches ein Riesentheater veranstaltet, da dieser aus dem Besitz eines berühmten Bischofs stammte. Lenny wußte, daß es nicht sehr schlau gewesen wäre, ihn zum Hehler zu bringen, ein zu großes Risiko für die paar Dollar, die er dafür kassiert hätte. Also hatte er den Kelch hinten in seinen Schrank gestopft und geplant, ihn später loszuschlagen, zum Beispiel in einer anderen Stadt.
Dann aber hatte Lilly wieder einmal einen Anfall von Putzwut bekommen, ihn gefunden und sofort als Meßkelch erkannt. Lenny hatte sich schnell eine Ausrede einfallen lassen müssen. Der Kelch habe Stars Mutter Rose gehört. Er erzählte Lilly, ihr Onkel, ein Priester, habe ihn ihr vermacht. Also polierte Lilly den Kelch, bis das Silber wie neu funkelte, und stellte ihn zu ihren Statuen.
Nun gut, wenn es sie glücklich machte, dachte Lenny. Wahrscheinlich hatte sie ihn vor Schwierigkeiten bewahrt, indem sie ihn daran gehindert hatte, den Kelch zu verkaufen. Doch inzwischen war Gras über die Sache gewachsen, und er fragte sich, wieviel der Kelch heute wohl
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