In einer Winternacht
ihr Haus Leuten vermacht, die es nach ihren Vorstellungen instandhalten. Schließlich hat sie wegen des Kastens immer ein solches Theater veranstaltet, daß sie uns allen damit auf die Nerven ging. Außerdem hat sie ihre Schwester ja nicht auf die Straße gesetzt. Sie hat dafür gesorgt, daß Kate die obere Wohnung bekommt, in die sie ohnehin einziehen wollte, nachdem sie das Haus der Kindertagesstätte gestiftet hat.«
Ohne es zu bemerken, schob Alvirah trotzig das Kinn vor, als sie weitersprach. »Bessie war, soweit ich mich erinnere, nie eine große Kinderfreundin. Ich weiß noch, wie sie einmal gefragt wurde, ob sie es nicht bedauere, keine Familie zu haben. Ihre Antwort lautete: ›Leute mit Kindern und Leute ohne bemitleiden einander ständig.‹«
Kurz hielt Alvirah inne und dachte daran, wie gerne Willy und sie eine Familie gegründet hätten. Inzwischen wären ihre Enkel etwa im Alter der Kinder gewesen, die sie gestern in der Tagesstätte gesehen hatten. Sie schüttelte den Kopf. Nun, es sollte eben nicht sein, ermahnte sie sich.
»Nehmen wir also an«, fuhr sie fort, »daß Bessie den Gedanken nicht ertragen konnte, daß Kinder durch ihr geliebtes Haus tollen, Fingerabdrücke an den Wänden hinterlassen und die Holztäfelungen zerkratzen. Und auch nicht die Vorstellung, daß die Möbel, die sie fünfzig Jahre lang poliert hat, Kindersachen und Spielzeug weichen müssen.«
Alvirah beschloß, das Mikrophon zu testen, drückte nacheinander auf STOP, REWIND und PLAY und hörte sich ein Stück des Bandes an.
Es funktioniert, stellte sie erleichtert fest, und ich klinge, als redete ich mich allmählich in Rage. Nun, ich bin auch wütend!
Sie räusperte sich und fuhr entrüstet mit ihren Überlegungen fort. »Also ist der einzige Punkt, der darauf hinweist, daß das neue Testament gefälscht sein könnte, das Wort ›ursprünglich‹, das Bessie nie und nimmer verwendet hätte.«
Sie nahm ihren Stift und blätterte zur nächsten leeren Seite ihres Notizbuches um, die auf die Abhandlung zu dem Thema »Der Todesfall Trinky Callahan« folgte. Unter der Überschrift »Das Rätsel um Bessies Testament« hielt sie ihr erstes Ermittlungsergebnis fest: »Benutzung des Wortes ›ursprünglich‹«.
Alvirah schrieb rasch weiter. Die Zeugen: Namen und Hintergründe. Das Datum: Das Testament war am 30. November unterzeichnet worden. Hatte Kate die Zeugen kennengelernt? Was hatte sie sich gedacht, als sie plötzlich vor der Tür standen und Bessie sprechen wollten?
Und jetzt benutze ich meine kleinen grauen Zellen, dachte Alvirah. Vor kurzem hatte sie die Hercule-Poirot-Romane von Agatha Christie gelesen. Und wenn sie an der Aufklärung eines Verbrechens arbeitete, versuchte sie, sich an Poirots Methode des logischen Schlußfolgerns zu halten.
Nachdem Alvirah die letzte Eintragung gemacht und sich einen Plan zurechtgelegt hatte, sah sie auf die Uhr: halb acht. Zeit, das Notizbuch zuzuklappen und das Mikrophon abzuschalten, beschloß sie. Bald würde Willy aufwachen, und bis dahin mußte das Frühstück fertig sein.
Irgendwann heute muß ich unter vier Augen mit Kate sprechen und meine Fragen mit ihr durchgehen, überlegte sie.
Plötzlich fiel ihr noch etwas ein, und sie schaltete das Mikrophon wieder an. Seit sie nach ihrem Lottogewinn den ersten Artikel für den New York Globe über ihren Aufenthalt im Kurort Cypress Point geschrieben hatte, waren der Redakteur Charley Evans und sie dicke Freunde geworden. Bestimmt konnte er für sie etwas über Vic und Linda Baker in Erfahrung bringen. »Die grauen Zellen sind jetzt wach!« rief sie aus. »Jetzt müssen die Reporter des Globe rauskriegen, ob die Bakers irgendwelche Leichen im Keller haben. Ich wette, es ist nicht das erstemal, daß dieses Betrügerpärchen jemanden über den Tisch zieht.«
Normalerweise fanden sich nur etwa dreißig Gläubige zur Sieben-Uhr-Messe in St. Clement ein, meist ältere Gemeindemitglieder und Rentner. In der Adventszeit jedoch verdoppelte sich die Anzahl der Gottesdienstbesucher. In seiner kurzen Predigt sprach Monsignore Ferris vom Advent als einer Zeit des Wartens. »In diesen Wochen erwarten wir die Geburt des Erlösers«, sagte er. »Wir erwarten den Augenblick, als Maria in Bethlehem ihren kleinen Sohn zum erstenmal ansah.«
Als er ein leises Aufschluchzen hörte, wanderte sein Blick zu der Sitzreihe neben dem Portrait von Bischof Santori. Die hübsche junge Frau, die ihm schon öfter auf der Straße gegenüber dem Pfarrhaus
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