In einer Winternacht
Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Alvirah, sie sagten doch, sie käme Ihnen bekannt vor. Wissen Sie vielleicht, woher? Ich würde ihr wirklich gern helfen.«
»Ich zermartere mir bereits seit einer Weile das Hirn, aber es will mir einfach nicht einfallen«, antwortete Alvirah bedauernd. »Geben Sie mir Zeit. Ich bin nämlich sicher, daß ich ihr Foto schon einmal gesehen habe, aber ich weiß nicht, wo.«
Als Willy und Alvirah zwei Stunden später auf ihrem Heimweg vom Restaurant an der Carnegie Hall vorbeikamen, brach Alvirah mitten im Satz ab und zeigte mit dem Finger. »Willy, schau, da ist das Mädchen.«
In einer Glasvitrine hing das Plakat für das Weihnachtskonzert, auf dem die auftretenden Künstler abgebildet waren: Placido Domingo, Kathleen Battle, Yo-Yo Ma, Emanuel Ax und Sondra Lewis.
Alvirah und Willy lasen den Text unter dem Bild von Sondra Lewis. Selbst auf dem Foto wirkte sie traurig und niedergeschlagen. »Warum sieht ein Mädchen, das bald zum erstenmal in der Carnegie Hall spielen wird, nur so unglücklich aus?« wunderte sich Willy.
»Offenbar hat es etwas mit St. Clement zu tun«, erwiderte Alvirah. »Und ich werde rauskriegen, was es damit auf sich hat.«
13
A
ls kleines Mädchen hatte Stellina ihre Nonna gefragt, warum sie keine Mutter hatte wie die anderen Kinder. Nonna hatte geantwortet, Stellinas Mutter habe sie bei ihrem Daddy gelassen, denn sie sei nach der Geburt sehr krank geworden und habe nach Kalifornien ziehen müssen, um wieder gesund zu werden. Natürlich sei die Mutter beim Abschied sehr traurig gewesen, aber sie habe versprochen zurückzukommen, falls es ihr je wieder bessergehen sollte. Aber Nonna hatte Stellina auch gestanden, daß sie nicht daran glaubte. Sicher hatte der liebe Gott Stellinas Mutter schon längst zu sich gerufen.
Und als Stellina in den Kindergarten kam, hatte Nonna ihr den silbernen Kelch gezeigt, den sie in Daddys Schrank gefunden hatte. Sie hatte Stellina erklärt, der Onkel ihrer Mutter, ein Priester, habe ihn ihr geschenkt, und diese wiederum habe ihn Stellina vermacht. Nonna sagte, der Kelch sei in der heiligen Messe benutzt worden, er sei geweiht und deshalb etwas Besonderes.
So wurde der Kelch für Stellina eine Art Talisman, und manchmal, wenn sie sich beim Einschlafen zu sehr nach ihrer Mutter sehnte, bat sie Nonna, ihn in der Hand halten zu dürfen.
Nonna nahm sie deshalb öfter auf den Arm. »Kleine Kinder geben irgendwann ihre Kuscheldecke auf, Stellina. Und du, ein großes Mädchen, das bald in die Schule kommt, suchst dir auf einmal etwas, an das du dich klammern kannst.« Aber dann lächelte sie immer und gab Stellina den Kelch. In einer Mischung aus Englisch und Italienisch tröstete sie das liebe, kleine Mädchen, das einzig Gute, was ihr nichtsnutziger Neffe je zustandegebracht hatte. »Ach, bambina«, flüsterte Nonna. »Ich werde immer für dich sorgen.«
Als Stellina am Sonntagnachmittag zusah, wie Nonna den blauen Schleier für das Krippenspiel nähte, hatte sie plötzlich eine Idee. Sie fragte Nonna, ob sie den Kelch mitnehmen und ihn beim Krippenspiel als heilige Maria dem Christkind schenken dürfe.
Nonna war nicht einverstanden. »Ach nein, Stellina. Vielleicht geht er verloren. Und außerdem war die heilige Maria viel zu arm, um dem Christkind etwas aus Silber zu schenken. Es würde nicht passen.«
Stellina protestierte nicht, aber sie beschloß, Nonna zu überreden. Sie wußte auch schon, welches Gebet sie sprechen wollte, wenn sie den Kelch zum Christkind in die Krippe legte: »Bitte mach meine Mutter gesund, wenn sie noch krank ist. Und bitte sorg dafür, daß sie mich wenigstens einmal im Leben besuchen kommt.«
Detective Joe Tracy vom 24. Revier in Manhattan fand es höchst interessant, daß Lenny Centino wieder aus der Versenkung aufgetaucht war. Er hatte bereits vor einigen Jahren in einer Strafsache gegen ihn ermittelt, ihm aber nichts nachweisen können. Doch das änderte nichts an seiner Überzeugung, daß Lenny damals in das Verbrechen – Drogenverkauf an Minderjährige – verwickelt gewesen war.
Wie Tracys Partner ihm erklärte, hatte Lenny laut Vorstrafenregister nur Bagatelldelikte, zum Beispiel ein paar Einbrüche und kleine Betrügereien, auf dem Kerbholz. Tracy war jedoch sicher, daß Lenny bis jetzt einfach nur das Glück gehabt hatte, nicht erwischt worden zu sein.
»Klar, er hat eine kurze Strafe abgesessen«, sagte Tracy. »Im Jugendgefängnis vor fünfundzwanzig Jahren. Inzwischen ist die
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