In einer Winternacht
aufgefallen war, saß in der Bank. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und ihre Schultern zuckten. Ich muß dafür sorgen, daß sie mit mir redet, dachte er. Doch dann sah er, daß sie in ihre Handtasche griff, eine dunkle Brille herausholte, sie aufsetzte und den Gang entlang und zur Tür hinausschlüpfte.
Um halb zehn begann Kate Durkin die Sachen im Zimmer ihrer verstorbenen Schwester zu sortieren. Es wäre Verschwendung gewesen, Bessies Kleider im Schrank hängen zu lassen, solange so viele Menschen nichts zum Anziehen hatten.
Das Himmelbett, das Bessie acht Jahre lang mit Richter Aloysius Maher geteilt und in dem sie das Zeitliche gesegnet hatte, stand in stummem Tadel da, als Kate Kleider und Jacken aus dem Schrank nahm. Einige Kleidungsstücke waren mindestens zwanzig Jahre alt. Bessie sagte immer, es wäre Unsinn, sie wegzugeben, da ich sie eines Tages vielleicht brauchen könnte, ging es Kate durch den Kopf. Aber offenbar hat sie dabei übersehen, daß ich mindestens zehn Zentimeter wachsen müßte, damit sie mir passen. Ein Wunder, daß sie das Zeug nicht auch Linda Baker vermacht hat, dachte sie bitter.
Als Kate die unerwarteten Enthüllungen des gestrigen Tages und das überraschend aufgetauchte Testament einfielen, stiegen ihr Tränen in die Augen. Ungeduldig wischte sie sie weg, und dabei sah sie Bessies Schreibtisch mit der Schreibmaschine. Irgend etwas war doch damit, etwas, an das sie sich eigentlich hätte erinnern müssen, aber was?
Allerdings blieb ihr keine Zeit zu überlegen, was ihr Unterbewußtsein ihr hatte sagen wollen, denn sie hörte hinter sich ein Geräusch. Als sie sich umdrehte, sah sie Vic und Linda in der Tür stehen.
»Ach, Kate«, flötete Linda zuckersüß. »Wie nett, daß Sie für uns Bessies Zimmer ausräumen.«
Es läutete an der Eingangstür. »Ich mache auf«, verkündete Vic Baker.
Noch gehört das Haus nicht euch, dachte Kate und folgte ihm rasch die Treppe hinunter.
Zu Kates Freude stand Alvirah auf der Vortreppe und fragte: »Befindet sich Kate Durkin, die Hausherrin, irgendwo in diesem im ursprünglichen Charakter erhaltenen Anwesen?«
10
U
m Mitternacht kam Lenny nach Hause, schlich auf Zehenspitzen in sein Zimmer – Lilly hatte den Großteil ihrer Schneiderarbeiten weggeräumt und legte sich ins Bett.
Als er am nächsten Morgen um neun aufwachte, hörte er zu seiner Überraschung Stimmen im Nebenzimmer. Doch dann fiel ihm ein, daß heute Samstag war. Star hatte schulfrei.
Außerdem bedeutete es, daß Tante Lilly noch im Bett lag, denn sonst wäre sie ja in die Messe gegangen. Seit ihrem schweren Sturz im letzten Sommer war sie nicht mehr die alte. Sie versuchte zwar, ihm weiszumachen, daß sie sich wohlfühlte, aber er hatte ein Gespräch mit einer Nachbarin belauscht: Der Arzt vermutete, daß es sich bei der Ohnmacht um einen leichten Schlaganfall gehandelt habe. Doch ganz gleich, was der Grund war, sie hatte sich seit seinem letzten Besuch im September stark verändert.
Er hatte ihr erzählt, er sei in Florida gewesen und habe dort für einen Lieferservice gearbeitet. Sie hatte sich gefreut, daß er einer regelmäßigen Arbeit nachging. Um Stellina brauche er sich keine Sorgen zu machen. Das könnte ihr so passen, dachte er. Tante Lilly wäre es am liebsten, wenn ich für immer verschwinden würde.
Nun, zum Teil war das mit seinem Job nicht einmal gelogen gewesen, überlegte er, während er sich eine Zigarette anzündete. Ich habe wirklich Waren ausgeliefert, und zwar kleine Päckchen, die die Leute glücklich machen. Doch allmählich war ihm der Boden zu heiß unter den Füßen geworden. Deshalb hatte er beschlossen, nach New York zurückzukehren, ein paar kleine Geschäfte zu tätigen und Star besser kennenzulernen. Ich bin nur ein netter, besorgter, alleinerziehender Vater, der bei seiner alten Tante in einem anständigen Haus wohnt, dachte er. Und das ist gut so. Denn wenn Lilly endgültig die Augen zumacht, werden Star und ich ein gutes Verhältnis zueinander haben. Wer weiß, vielleicht kann sie ja für mich arbeiten.
Während er sich die Zukunft weiter ausmalte, drückte er die ausgerauchte Zigarette in einer Schale mit Nähutensilien aus und beschloß, sich noch eine anzuzünden, um seine Nerven zu beruhigen, bevor er Tante Lilly gegenübertrat.
Schon als Star noch klein gewesen war und er sie mit dem Kinderwagen spazierenfuhr, war Lilly jedesmal mißtrauisch gewesen. Lenny grinste, als ihm die vielen Waren einfielen, die er
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