In Einer Zaertlichen Winternacht
Neugier
beäugt, später hatte sie für die Kinder Milch in Becher geschöpft und sie ihnen
sogar an den Tisch gebracht.
Juliana
versetzte es ein Stich ins Herz. Gracie hatte einen starken, liebevollen Vater,
ein Zuhause, und sie war gesund. Doch hinter all diesen Vorzügen lauerte eine
Einsamkeit, die für ein so junges Mädchenuntypisch war. Gracie hatte ihre
Mutter sehr früh verloren, und niemand verstand den Schmerz darüber besser als
Juliana selbst. Sie war sechs gewesen, als ihre Mutter an Schwindsucht
gestorben war. Julianas Vater, halb wahnsinnig vor Trauer, hatte seine beiden
Kinder zwei Wochen nach der Beerdigung bei der Großmutter abgegeben und sich in
die Trunksucht gestürzt.
Ihr drei
Jahre älterer Bruder Clay hatte sich nach dem Tod der Mutter von einem
fröhlichen, verschmitzten Jungen zu einem ernsten Mann entwickelt, scheinbar
über Nacht. Auf diese Weise hatte Juliana nicht nur ihre Eltern, sondern auch
ihren Bruder verloren.
Julianas
Großmutter Victoria Martson war bereits Witwe, als ihre einzige Tochter starb.
Sie liebte ihre beiden Enkel Juliana und Clay bedingungslos. Und sie hatte
ihnen alles ermöglicht, was in ihrer Macht stand – Hauslehrer, Musikunterricht
und in Julianas Fall den Besuch eines Mädchenpensionats, wo sie jedoch vor
allem lernte, mit Männern Konversation zu betreiben, elegant Tee einzuschenken
und beim Gehen ein Buch auf dem Kopf zu balancieren. Nachdem sie das erkannt
hatte, wechselte sie heimlich auf die sogenannte Normal School und ließ
sich zur Lehrerin ausbilden. Clay besuchte währenddessen ein College in San
Francisco.
Juliana
wohnte weiterhin mit ihrer Großmutter in Denver und besuchte jeden Tag den
Unterricht. Dabei ließ sie die alte Dame in dem Glauben, dass sie weiterhin an
der Perfektionierung ihres gesellschaftlichen Auftretens arbeitete. In
Wahrheit wartete sie die ganze Zeit darauf, dass ihr eigenes Leben endlich
begann.
Trotz allem
wusste Juliana sehr wohl, wie gut es ihr ging. Für sie wurde gesorgt, sie
konnte schöne Kleider tragen und bekam eine Ausbildung, von der die meisten
jungen Frauen nur träumen konnten. Und doch war da immer eine kindliche
Sehnsucht in ihrem Herzen, die Sehnsucht nach ihrer schönen, lachenden Mom.
Nach dem
Schulabschluss – ihre Großmutter war nur wenige Wochen zuvor an Herzversagen
gestorben – begann sie ihre berufliche Laufbahn mit großen Hoffnungen,
krempelte die Ärmel hoch und stürzte sich in die Arbeit. Die kühle
Missbilligung ihres Bruders ignorierte sie zunächst. Er wollte, dass sie seinen
Geschäftspartner John Holden heiratete, und er verwaltete das Vermögen ihrer
Großmutter. An dem Tag, an dem Juliana John den Verlobungsring zurückgab und
stattdessen eine Stelle an einer Schule für indianische Jungen in einer kleinen
Stadt in Colorado annahm, enterbte er sie.
Also
verließ Juliana Denver mit nichts als ein paar schlichten Kleidern und einigen
wenigen persönlichen Habseligkeiten im Gepäck. Clay ging sogar so weit, sie mit
den Worten, sie könne gern zurückkommen, wenn sie wieder bei Verstand wäre, aus
dein Elternhaus zu verbannen.
Für Clay
bedeutete »bei Verstand sein« nichts anderes als eine lieblose Ehe mit einem
Witwer einzugehen, der über zwanzig Jahre älter war als sie und zwei Töchter in
Julianas Alter hatte.
Es waren
gehässige Töchter, die ständig abfällige Bemerkungen über Juliana machten und
ihre künftige Stiefmutter als Eindringling Eindringling betrachteten, der es
auf den Schmuck ihrer verstorbenen Mutter, ihr Haus und ihren Vater abgesehen
hatte.
Bei dem
Gedanken daran biss Juliana sich auf die Unterlippe, i h re Augen brannten ein
wenig. Ohne Eleanor und Eugenie wäre sie mit John vielleicht sogar zufrieden
gewesen, wenn auch nicht glücklich. Er war ein freundlicher, belesener Mann,
bei dem sie sich sicher gefühlt hatte.
Doch
irgendwann erkannte sie, dass sie in ihm einen Vater sah und keinen Ehemann,
was sie John auch erklärte. Er reagierte zwar enttäuscht, aber verständnisvoll
und wünschte ihr eine glückliche Zukunft.
Clay
hingegen war außer sich vor Wut geraten. Sein sonst so attraktives Gesicht war
so hart wie Stein geworden, als sie ihm von der aufgelösten Verlobung erzählt
hatte.
In den
sechs Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er sich ein wenig
versöhnlicher gezeigt – wahrscheinlich weil seine Frau Nora immer wieder ein
gutes Wort für Juliana einlegte. Er schrieb regelmäßig Briefe, lud Juliana
sogar ein, ihn zu besuchen, und
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