In eisige Höhen
Zwanzig war, war Bergsteigen zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden, der so gut wie alles andere in den Hintergrund drängte. Den Gipfel eines Berges zu erklimmen war etwas Greifbares, eine unleugbare Tatsache, etwas Konkretes. Die drohenden Gefahren verliehen dem Ziel eine Ernsthaftigkeit, die meinem sonstigen Leben abging. Ich labte mich an dem neuen Lebensgefühl, das sich wie von allein einstellte, einfach weil ich ständig über meine normale Existenz hinausging.
Das Bergsteigen vermittelte auch ein Gemeinschaftsgefühl. Bergsteiger zu werden hieß, in eine in sich geschlossene, fanatisch-idealistische Gemeinschaft aufgenommen zu werden, die überraschenderweise unverdorben war und von der Welt im großen und ganzen kaum zur Kenntnis genommen wurde. Die alpine Kultur war von hartem Wettkampf und unverwässertem Machismo gekennzeichnet, aber die meiste Zeit über waren ihre Anhänger damit beschäftigt, gegenseitig Eindruck zu schinden. Es ging weniger darum, den Gipfel eines bestimmten Berges zu erreichen, als um die Art und Weise,
wie
man dorthin gelangte: Prestige erlangte, wer die härtesten, unzugänglichsten Routen mit minimaler Ausrüstung in Angriff nahm, und dies in der kühnsten Manier, die man sich vorstellen kann. Am allermeisten bewundert wurden die sogenannten freien Solisten: Visionäre, die Alleinbesteigungen unternahmen, ohne Seil, Eispickel oder Steigeisen.
In jenen Jahren lebte ich fürs Klettern, bestritt mit fünf-, sechstausend Dollar im Jahr meinen Lebensunterhalt, arbeitete jeweils so lange als Schreiner oder auf Lachsfischerbooten, bis ich das Geld für den nächsten Trip zu den Bugaboos, der Teton oder der Alaska Range beisammenhatte. Aber irgendwann mit Mitte Zwanzig ließ ich meinen jugendlichen Traum von der Besteigung des Everest fallen. Damals war es unter alpinen Kennern bereits Mode, den Everest als »Schlackehaufen« schlechtzumachen – ein Gipfel, dem es an klettertechnischen Herausforderungen und ästhetischem Reiz zu sehr mangelte, um ein würdiges Ziel für einen »ernsthaften« Bergsteiger abgeben zu können, was ja mein sehnlichster Wunsch war. Ich fing an, hochnäsig auf den höchsten Berg der Erde herabzublicken.
Dieser Snobismus beruhte auf der Tatsache, daß der Everest Anfang der Achtziger über die leichteste Strecke – über den Südsattel und den Südwestgrat – schon mehr als einhundertmal bestiegen worden war. Ich und meinesgleichen sprachen von dem Südostgrat immer als der »Doofie-Route«. Unsere Verachtung ging ins Unermeßliche, als Dick Bass – ein wohlhabender fünfundfünfzigjähriger Texaner mit begrenzter Bergerfahrung von einem jungen, außergewöhnlich begabten Bergsteiger namens David Breashears zum Gipfel des Everest hochgeleitet wurde – ein Ereignis, das von riesigem, völlig undifferenziertem Medienwirbel begleitet wurde.
Vorher war der Everest im großen und ganzen Elite-Kletterern vorbehalten. Mit den Worten von Michael Kennedy, dem Herausgeber der Zeitschrift
Climbing:
»Auf eine Everest-Expedition eingeladen zu werden war eine Ehre, die einem nur zuteil wurde, wenn man zuvor eine lange Lehrzeit auf anderen Gipfeln absolviert hatte. Es dann tatsächlich bis zum Gipfel zu schaffen, erhob einen Bergsteiger in die Staretage des Bergsteigerhimmels.« Bass' Besteigung änderte all dies. Indem er sich
den Everest einverleibte, wurde er der erste Mensch, der alle Sieben Gipfel 4 erklommen hatte, eine Meisterleistung, die ihn weltberühmt machte und die ganze Scharen von anderen Wochenendkraxlern dazu anspornte, seinen von Bergführern vorgelaufenen Stiefelabdrücken zu folgen. Der Everest aber wurde damit auf unsanfte Weise ins postmoderne Zeitalter gezerrt.
»Für alternde Typen wie mich war Dick Bass eine Erleuchtung«, meinte Seaborn Beck Weathers mit seinem unüberhörbaren osttexanischen Näseln während des Anstiegs zum Basislager im vergangenen April. Beck, ein neunundvierzigjähriger Pathologe aus Dallas, war einer der acht Kunden, die der von Rob Hall geführten 1996er Expedition angehörten. »Bass bewies, daß der Everest für normale Typen bezwingbar war. Ich glaube, das größte Hindernis – immer vorausgesetzt, daß man einigermaßen fit ist und nicht schlecht verdient – ist wohl, von der Arbeit freizukommen und sich zwei Monate von seiner Familie zu verabschieden.«
Wie die Vergangenheit zeigt, war es für die Mehrzahl der Bergsteiger bisher kein unüberwindbares Hindernis, sich vom Alltagstrott loszureißen, und
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