In eisige Höhen
Teilnahmslosigkeit flüchtete. Ich fühlte mich emotional betäubt, bei gleichzeitiger äußerster Konzentration, so als wäre ich in einen Bunker im tiefsten Inneren meines Schädels geflohen und blickte nun durch einen schmalen gepanzerten Schlitz nach draußen auf die Trümmer um mich herum. Als ich so mit leeren Augen gen Himmel starrte, schien er einen unnatürlich blassen Blauton angenommen zu haben, als wären auch die letzten Farbreste aus ihm herausgebleicht worden. Der zackige Horizont war mit einer glühenden Aureole bemalt, die vor meinen Augen flackerte und zuckte. Allmählich überkam mich das Gefühl, mich auf einer Spirale zu befinden, die sich abwärts wand, in das alptraumhafte Reich des Wahnsinns. Nachdem ich eine Nacht auf 7900 Metern ohne zusätzlichen Sauerstoff verbracht hatte, fühlte ich mich sogar noch schwächer und ausgezehrter als am Abend zuvor, als ich vom Gipfel zurückgekehrt war. Wenn wir nicht bald irgendwie mehr Sauerstoff auftrieben oder auf ein Lager weiter unten abstiegen, würden meine Teamgefährten und ich bald völlig flachliegen, soviel war gewiß.
Der Schnellakklimatisierungsplan, wie er von Hall und den meisten anderen Everest-Besteigern befolgt wird, ist bemerkenswert effektiv: Er erlaubt einem Bergsteiger, nach einem nur vierwöchigen Aufenthalt oberhalb von 5 200 Metern – einschließlich einem einzigen Akklimatisierungsausflug auf 7300 Metern Richtung Gipfel aufzubrechen. 38
Seine Strategie beruht jedoch auf der Annahme, daß sämtliche Teilnehmer in Höhen oberhalb von 7300 Metern ständig zusätzlichen Sauerstoff atmen. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, werden die Karten neu gemischt.
Ich machte mich auf, den Rest unserer Crew aufzustöbern, und fand Frank Fischbeck und Lou Kasischke in einem Zelt ganz in der Nähe. Lou lag im Delirium und war schneeblind; er konnte absolut nichts mehr sehen, war völlig hilflos und murmelte nur noch unverständliches Zeug vor sich hin. Frank schien einen schweren Schock erlitten zu haben, kümmerte sich aber so gut er konnte um Lou. In einem anderen Zelt stieß ich auf John Taske und Mike Groom. Beide schienen entweder zu schlafen oder in einen Zustand der Bewußtlosigkeit versunken zu sein. So wackelig und schwach ich selbst auf den Beinen war – es war offensichtlich, daß es allen außer Stuart Hutchison noch schlechter ging.
Als ich so von Zelt zu Zelt ging, versuchte ich, Sauerstoff ausfindig zu machen, aber sämtliche Behälter, die ich finden konnte, waren leer. Der anhaltende Sauerstoffmangel, verbunden mit einer tiefen Erschöpfung, verschlimmerten noch das Gefühl von Konfusion und Verzweiflung. Wegen des Höllenlärms, das die im Wind schlagenden Nylonwände veranstalteten, war es praktisch unmöglich, von Zelt zu Zelt zu kommunizieren. Die Batterien unseres einzig verbliebenen Funkgeräts waren so gut wie leer. Endzeitstimmung machte sich breit, ein Gefühl, das durch die Tatsache noch verschlimmert wurde, daß unser Team – das in den vergangenen sechs Wochen immer dazu ermahnt worden war, sich ganz und gar auf die Bergführer zu verlassen – nun plötzlich völlig ohne Führung dastand: Mit Rob und Andy war nicht mehr zu rechnen, und Groom war von der vergangenen Nacht schwer mitgenommen. An ernsten Erfrierungen leidend, lag er benommen in seinem Zelt und war vorläufig nicht ansprechbar.
Schließlich trat Hutchison vor, um die fehlende Führerschaft zu übernehmen. Der reizbare, sich selbst sehr ernst nehmende junge Mann aus der englisch sprechenden Oberschicht Montreals war ein hervorragender wissenschaftlich-medizinischer Forscher. Alle zwei, drei Jahre ging er auf eine große Bergexpedition, hatte darüber hinaus jedoch kaum Zeit fürs Klettern. Als die Krise auf Camp Vier sich zuspitzte, tat er sein Bestes, sich der Lage gewachsen zu zeigen.
Während ich versuchte, mich einigermaßen von meiner ergebnislosen Suche nach Harris zu erholen, stellte Hutchison ein Team von Sherpas auf. Er wollte die Leichen von Namba und Weathers ausfindig machen, die ja in der Nacht zuvor, als Anatoli Boukreev Charlotte Fox, Sandy Pittman und Tim Madsen ins Lager führte, am anderen Ende des Sattels zurückgelassen worden waren. Der Sherpa-Suchtrupp wurde von Lhakpa Chhiri angeführt und brach kurz vor Hutchison auf, der dermaßen erschöpft und wirr im Kopf war, daß er vergaß, die Stiefel anzuziehen, und das Lager im leichten glattbesohlten Innenfutter verlassen wollte. Erst als Lhakpa Hutchison auf seinen Patzer
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