Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
Vom Netzwerk:
feststellen, daß die Leiter zu wackelig und brüchig geworden war und sich teilweise vom Fels gelöst hatte. Die Japaner mußten sich nun anderthalb Stunden lang abschinden, bis sie die sieben Meter hohe Felsstufe überwunden hatten.
    Nicht weit vom oberen Ende der Zweiten Stufe entfernt stießen sie auf die beiden anderen Ladakhis, Smanla und Morup.
    Nach einem Artikel in der
Financial Times,
verfaßt von dem britischen Journalisten Richard Cowper, der Hanada und Shigekawa gleich nach ihrer Besteigung in 6400 Meter Höhe interviewte, lag einer der Ladakhis »offensichtlich im Sterben, der andere kauerte im Schnee. Die Japaner gingen wortlos weiter. Kein Wasser, kein Essen und kein Sauerstoff wechselte den Besitzer. Etwa 50 Meter weiter machten die Japaner Rast und wechselten die Sauerstoff-Flaschen aus.«
    Hanada sagte Cowper: »Wir kannten sie nicht. Nein, wir haben ihnen kein Wasser gegeben. Wir haben kein Wort mit ihnen geredet. Sie waren schwer angeschlagen von der Höhenkrankheit. Sie haben gefährlich ausgesehen.«
    Shigekawa führte aus: »Wir waren zu erschöpft, um ihnen zu helfen. Oberhalb von 8000 Metern ist nicht der Ort, wo Leute sich so was wie Moral leisten können.«
    Das japanische Team wandte Smanla und Morup den Rücken zu, nahm seine Besteigung wieder auf, zog an den von den Ladakhis auf 8 700 Metern zurückgelassenen Gebetsfahnen und Kletterhaken vorbei, um schließlich – unter einer erstaunlichen Demonstration von Zähigkeit und Ausdauer – um 11 Uhr 45 im heulenden Sturm den Gipfel zu erreichen. Rob Hall lag zu dem Zeitpunkt zusammengekauert auf dem Südgipfel, etwa einen halbstündigen Klettermarsch über den Südostgrat nach unten, und kämpfte um sein Leben.
    Auf ihrem Abstieg über den Nordostgrat zu ihrem Hochlager stieß das japanische Team oberhalb der Zweiten Stufe erneut auf Smanla und Morup. Dieses Mal schien Morup bereits tot zu sein; Smanla lebte zwar noch, hatte sich aber hoffnungslos in einem Fixseil verheddert. Pasang Kami, ein Sherpa im japanischen Team, befreite Smanla aus dem Seil und stieg dann weiter den Grat hinab. Als sie an der Ersten Stufe vorbeikamen – wo sie auf dem Hinweg an Paljor vorbeigeklettert waren, der zusammengesackt im Schnee vor sich hin phantasierte –, war von dem dritten Ladakhi keine Spur mehr zu sehen.
    Sieben Tage später startete die indisch-tibetanische Grenzpolizei einen weiteren Gipfelangriff. Schon bald nachdem zwei Ladakhis und drei Sherpas um 1 Uhr 15 von ihrem Hochlager aufgebrochen waren, stießen sie auf die zu Stein gefrorenen Leichen ihrer Teamgefährten. Sie berichteten, daß einer der Männer sich in den letzten Todeszuckungen seine Kleidung fast vollständig vom Leib gerissen hatte, bevor er schließlich starb. Smanla, Morup und Paljor wurden auf dem Berg zurückgelassen, dort, wo sie den Tod gefunden hatten. Die fünf Bergsteiger drangen weiter zum Gipfel vor, den sie um 7 Uhr 40 erreichten.
     

KAPITEL NEUNZEHN
    Südsattel 7 Uhr 30
11. Mai 1996
7.900 Meter

Kreisend und kreisend in immer weiterem Bogen Entschwindet der Falke dem Ruf des Falkeniers. Alles fällt auseinander, die Mitte hält nicht mehr, Bare Anarchie bricht aus über die Welt. Blutgeblendete Strömungen sind losgelassen. Allenthalben Wird der heilige Vorgang der Unschuld überschwemmt.
    WILLIAM BUTLER YEATS
    Der Jüngste Tag
     
    Als ich am Samstag morgen, dem 11. Mai, gegen 7 Uhr 30 nach Camp Vier zurückwankte, wurde all dies, von dem ich mir gar nicht vorstellen konnte, daß es wirklich passiert war – und noch immer passierte –, allmählich zur lähmenden Gewißheit. Ich hatte gerade eine Stunde lang den Südsattel nach Andy Harris abgesucht und war physisch und emotional am Ende. Die Suche hatte jeden Zweifel in mir beseitigt, daß er tot war. Die Funkgespräche mit Rob Hall auf dem Südgipfel, die mein Teamgefährte Stuart Hutchison mit angehört hatte, ließen nur den Schluß zu, daß unser Expeditionsleiter sich in einer verzweifelten Lage befand und Doug Hansen tot war. Teilnehmer von Fischers Expedition, die beinahe die ganze Nacht auf dem Südsattel umhergeirrt waren, berichteten, daß Yasuko Namba und Beck Weathers tot waren. Und von Scott Fischer und Makalu Gau wurde ebenfalls angenommen, daß sie entweder tot waren oder kurz vor dem Tod standen, knapp 400 Meter oberhalb der Zelte.
    Immer wieder führte ich mir diese Verluste vor Augen, bis mein Verstand schließlich streikte und sich in einen sonderbaren, beinahe roboterhaften Zustand der

Weitere Kostenlose Bücher