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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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selbst 2000 Höhenmeter weiter unten. In der Zwischenzeit drangen Ang Dorje und Lhakpa Chhiri hoch oben auf dem Südostgrat mit letzter Entschlossenheit durch den stärker werdenden Sturm weiter zu Hall vor. Um 15 Uhr jedoch, immer noch gut 200 Meter unterhalb des Südgipfels, stellten sich ihnen der Wind und die bittere Kälte als unüberwindbares Hindernis entgegen, und die Sherpas mußten aufgeben. Es war ein tapferes Unterfangen, das jedoch gescheitert war – und als sie umkehrten und mit dem Abstieg begannen, waren Halls Überlebenschancen praktisch auf Null gesunken.
    Über den ganzen 11. Mai hinweg flehten seine Freunde und Teamgefährten ihn unaufhörlich an, es aus eigener Kraft zu versuchen und herunterzukommen. Mehrere Male kündigte Hall an, daß er sich auf den Abstieg vorbereitete, nur um sich's wieder anders zu überlegen und weiter auf dem Südgipfel zu verharren. Um 15 Uhr 20 brüllte Cotter – der mittlerweile von seinem Camp am Fuße des Pumori zum Everest-Basislager herübergekommen war – Rob über Funk an: »Rob, mach endlich, daß du den Berg runterkommst.«
    Rob konterte mit verärgerter Stimme: »Jetzt hör mal zu, Alter, wenn ich glauben würde, daß ich mit meinen halb erfrorenen Händen die Knoten an den Fixseilen schaffen würde, dann war ich schon vor sechs Stunden hier weg. Jetzt schick endlich ein paar von den Jungs mit einer großen Thermo-Pulle hoch – dann wird's mir schon wieder bessergehen.«
    »Die Sache ist die, Junge, die Leute, die heute hochgegangen sind, sind in ein paar ziemlich heftige Winde gelaufen und mußten umkehren«, erwiderte Cotter und versuchte, Rob so schonend wie möglich beizubringen, daß der Rettungsversuch aufgegeben worden war. »Wir sind hier also der Meinung, daß deine beste Chance darin besteht, weiter nach unten vorzurücken.«
    »Ich kann hier noch eine weitere Nacht durchhalten, wenn ihr ein paar Jungs mit Sherpa-Tee hochschickt, morgen früh als erstes, nicht später als halb zehn, zehn«, antwortete Rob.
    »Du bist 'n harter Kerl, einer der Größten«, sagte Cotter mit zitternder Stimme. »Morgen früh schicken wir dir ein paar Jungs hoch.«
    Um 18 Uhr 20 rief Cotter Hall, um ihm zu sagen, daß Jan Arnold am Satellitentelefon in Christchurch sei und darauf wartete, durchgestellt zu werden. »Nur einen Moment«, sagte Rob. »Mein Mund is' trocken. Ich will noch ein bißchen Schnee essen, bevor ich mit ihr rede.« Kurz darauf war er wieder am Gerät und krächzte mit schleppender, schrecklich verzerrter Stimme: »Hi, mein Schatz. Ich hoffe, du liegst warm eingepackt im Bett.
    Wie geht's dir?«
    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich an dich denke!« antwortete Arnold. »Du klingst ja viel besser, als ich erwartet habe ... Ist dir auch nicht zu kalt, Liebling?«
    »Wenn man die Höhe und das ganze Drumherum bedenkt, geht's mir eigentlich verhältnismäßig gut«, antwortete Hall, der sie nicht allzusehr beunruhigen wollte.
    »Wie geht's deinen Füßen?«
    »Ich hab die Stiefel noch nicht ausgezogen und noch nicht nachgesehen, aber ich schätze, ein paar Erfrierungen werde ich mir schon geholt haben ...«
    »Ich kann's kaum erwarten, dich ganz gesund zu pflegen, wenn du wieder zu Hause bist«, sagte Arnold. »Ich weiß einfach, daß du gerettet wirst. Denk nicht, daß du allein und verlassen bist. Ich schicke all meine positiven Energien in deine Richtung los!«
    Bevor er Schluß machte, sagte Hall seiner Frau: »Ich liebe dich. Schlaf gut, mein Schatz. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen.«
    Dies sollten die letzten Worte sein, die je von ihm gehört wurden. Spätere Versuche während der Nacht und am nächsten Tag, mit ihm in Funkkontakt zu treten, blieben unbeantwortet. Zwölf Tage später, als Breashears und Viesturs auf ihrem Weg zur Bergspitze über den Südgipfel kletterten, fanden sie Hall in einer seichten Eismulde. Er lag auf seiner rechten Seite, den Oberkörper von Schneewehen begraben.
     

KAPITEL ACHTZEHN
    Nordostgrat
10. Mai
8.700 Meter

Der Everest war die Verkörperung der physischen Gewalten der Erde schlechthin. Dagegen mußte er die Kraft und das Streben des Menschen setzen. Er sah bereits die Freude in den Gesichtern seiner Kameraden, wenn er es schaffen würde. Er stellte sich die Begeisterung vor, den sein Erfolg überall unter den Bergsteigern auslösen würde, den Ruhm, den es England einbringen würde, die Anteilnahme in der ganzen Welt, die Berühmtheit, die er erlangen würde; und die anhaltende Zufriedenheit

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