In eisige Höhen
hinwies, kehrte er zurück, um sich die Stiefel anzuziehen. Die Sherpas, die nur Boukreevs Richtungsangaben zu folgen brauchten, fanden die beiden schon bald auf einem mit Felsblöcken besprenkelten Hügel in der Nähe der Kangshung-Flanke. Die Sherpas, die äußerst abergläubisch sind, was Tote angeht, blieben etwa zwanzig Meter entfernt stehen und warteten auf Hutchison.
»Der Schnee hatte die beiden zum Teil unter sich begraben«, weiß Hutchison noch. »Ihre Rucksäcke haben etwa 30 Meter von ihnen entfernt gelegen, ein Stück weiter oben auf dem Hügel. Gesichter und Rümpfe waren von Schnee bedeckt. Nur Hände und Füße haben herausgeragt. Der Wind ist über den Sattel nur so hinweggepfiffen.« Zuerst stieß er auf Namba, wie sich herausstellte – Hutchison hatte sie erst erkannt, nachdem er sich in den Wind gekniet und einen acht Zentimeter dicken Eispanzer von ihrem Gesicht gekratzt hatte. Fassungslos stellte er fest, daß sie noch atmete. Beide Handschuhe fehlten, und ihre entblößten Hände schienen zu Stein gefroren. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr Gesicht war weiß wie Porzellan. »Es war schrecklich«, erzählt Hulchison. »Es verschlug mir den Atem. Sie stand kurz vor dem Tod. Ich habe nicht mehr gewußt, was ich tun sollte.«
Er wandte sich Beck zu, der sechs, sieben Meter weiter lag. Auch Becks Kopf war mit einem dicken Eispanzer verklebt. Weintraubengroße Eiskugeln verfilzten sein Haar und seine Augenlider. Nachdem er Becks Gesicht von den gefrorenen Ablagerungen befreit hatte, stellte Hutchison fest, daß auch der Texaner noch lebte. »Beck hat irgendwas vor sich hin gemurmelt, glaube ich, aber ich hab's nicht verstanden. Sein rechter Handschuh fehlte, und er hat verheerende Erfrierungen gehabt. Ich hab dann versucht, ihn aufzurichten, aber es ging einfach nicht. Er war dem Tod so nah, wie ein Mensch nur sein kann, der trotzdem noch atmet.«
Völlig erschüttert ging Hutchison zu den Sherpas hinüber und fragte Lhakpa um Rat. Lhakpa, ein alter Hase auf dem Everest, der wegen seiner Bergerfahrung und seiner Gewitztheit sowohl von den Sherpas als auch den Sahibs respektiert wird, riet Hutchison eindringlich, Yasuko und Beck liegenzulassen. Selbst wenn man sie noch lebend ins Camp Vier schleppen könnte, würden sie mit Sicherheit sterben, bevor sie ins Basislager gebracht werden könnten. Und ein Bergungsversuch würde ganz sinnlos das Leben der anderen Bergsteiger auf dem Sattel gefährden, von denen die meisten genug Schwierigkeiten hatten, es halbwegs unversehrt nach unten zu schaffen.
Hutchison sagte sich, daß Lhakpa recht hatte – es gab nur die eine Wahl, wie schwer sie einem auch fallen mochte: was Beck und Yasuko betraf, die Natur ihren unaufhaltsamen Lauf nehmen zu lassen und die Kraftreserven der Gruppe für jene aufzusparen, denen tatsächlich geholfen werden konnte. Es war ein klassischer Fall von natürlicher Auslese. Als Hutchison ins Lager zurückkehrte, stand er den Tränen nahe und sah aus wie sein eigenes Gespenst. Auf sein Bitten hin weckten wir Taske und Groom und drängten uns dann in ihr Zelt, um darüber zu
beraten, was wir nun mit Beck und Yasuko anfangen sollten. Das daraufhin folgende Gespräch verlief qualvoll und stokkend. Wir vermieden, uns in die Augen zu sehen. Nach fünf Minuten stimmten wir jedoch alle in einem Punkt überein: Hutchisons Entscheidung, Beck und Yasuko zurückzulassen, war richtig gewesen.
Wir diskutierten ebenfalls darüber, ob wir uns bereits am Nachmittag nach Camp Zwei aufmachen sollten, aber Taske bestand darauf, so lange nicht abzusteigen, wie Hall hilflos und verlassen auf dem Südgipfel festsaß. »Ich denk nicht dran, ohne ihn loszuziehen«, sagte er mit fester Stimme. Es war ein strittiger Punkt, trotz allem: Kasischke und Groom waren dermaßen am Ende ihrer Kräfte, daß ein Aufbruch vorläufig ohnehin völlig illusorisch war.
»Da fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen, ob wir vielleicht auf eine Wiederholung der Katastrophe auf dem K2 von 1986 zusteuern«, sagt Hutchison. Am 4. Juli jenes Jahres brachen sieben himalajaerfahrene Kletterer – einschließlich des legendären österreichischen Bergsteigers Kurt Diemberger zum zweithöchsten Gipfel der Welt auf. Sechs der sieben erreichten die Bergspitze: Auf dem Abstieg jedoch wurden die oberen Hänge des K2 von einem schweren Unwetter heimgesucht, das die Bergsteiger an ihr Hochlager auf 8 ooo Metern fesselte. Der Schneesturm währte ohne Unterlaß fünf ganze Tage,
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