Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
Vom Netzwerk:
Muster aus Schatten und blendendweißem Licht auf. Meine Teamgefährten ließen weiter auf sich warten, und ich saß da, die Füße über dem Abgrund baumelnd, sah dem Wolkenspiel zu und genoß die Aussicht auf knapp 7.000 Meter hohe Gipfel, die noch vor einem Monat alles überragt hatten. Das Dach der Welt, so schien es zumindest, war endlich in greifbare Nähe gerückt.
    Der Gipfel lag jedoch nur noch gute 1.500 Höhenmeter weiter oben, umkränzt von einem Nimbus windgetragener Kondensationswirbel. Aber auch wenn auf dem oberen Teil des Berges Winde von knapp 200 Stundenkilometern fegten, herrschte auf Camp Drei beinahe Windstille, und im Laufe des Nachmittags wurde mir von der knallenden Sonne ganz duselig – zumindest hoffte ich, daß es die Hitze war, die mich so benebelt machte, und nicht die ersten Symptome eines Gehirnödems.
    Ein Höhenluft-Gehirnödem, englisch HACE genannt, tritt seltener auf als ein Höhenluft-Lungenödem, ist aber tendenziell meist noch häufiger tödlich. HACE, eine rätselhafte Krankheit, tritt dann auf, wenn aus unter Sauerstoffentzug leidenden zerebralen Blutgefäßen Flüssigkeit sickert und dadurch eine starke Schwellung des Gehirns verursacht wird. Die Krankheit schlägt oft völlig überraschend und ohne Vorwarnung zu. Unter den Hirnschalen entsteht stetig zunehmender Druck, Motorik und geistiger Zustand verschlechtern sich mit alarmierender Geschwindigkeit – normalerweise innerhalb von ein paar Stunden oder weniger – und oft, ohne daß das Opfer die Veränderungen bemerkt. Das nächste Stadium ist das Koma und dann der Tod, es sei denn, der von der Krankheit Betroffene wird auf schnellstem Wege auf eine niedrigere Höhenlage evakuiert.
    HACE spukte mir an jenem Nachmittag im Kopf herum, denn erst vor zwei Tagen hatte die Krankheit Dale Kruse, ein zahlendes Mitglied aus Fischers Expedition, genau hier auf Camp Drei schwer erwischt. Der vierundvierzigjährige Zahnarzt aus Colorado, ein alter Freund Fischers, war ein baumstarker, sehr erfahrener Bergsteiger. Am 26. April war er von Camp Zwei zu Camp Drei geklettert und hatte für sich und seine Teamgefährten noch einen Tee aufgegossen, bevor er sich auf ein Nickerchen ins Zelt gelegt hatte. »Ich bin auf der Stelle eingeschlafen«, weiß Kruse noch, »und habe dann tatsächlich beinahe vierundzwanzig Stunden gepennt, bis um zwei Uhr nachmittags des folgenden Tages. Als mich schließlich jemand geweckt hat, war den anderen gleich klar, daß da oben bei mir was nicht stimmte. Ich selbst habe davon jedoch nichts mitgekriegt. Scott sagte zu mir: ›Wir müssen dich sofort nach unten bringen.‹«
    Kruse schaffte es kaum noch, sich auch nur anzuziehen. Er stülpte seine Klettermontur um, zog sie durch den Hosenschlitz seines Windschutzanzugs und versäumte es, sie zuzugürten. Glücklicherweise fiel Fischer und Neal Beidleman das Durcheinander auf, bevor man mit dem Abstieg begann. »Wenn er versucht hätte, sich so an den Seilen hinunterzulassen«, sagt Beidleman, »hätte es ihn auf der Stelle aus seiner Klettermontur gerissen und er hätte sich am Fuße der Lhotse-Flanke wiedergefunden. «
    »Ich hab mich gefühlt wie ein Betrunkener«, erinnert Kruse sich. »Ich konnte nicht gehen, ohne zu stolpern, und denken oder sprechen konnte ich überhaupt nicht mehr. War ein wirklich merkwürdiges Gefühl. Da will man irgendwas sagen, und man weiß auch, was, aber ich hab nicht gewußt, wie ich es denn nun schaffe, den Mund zu bewegen. Scott und Neal mußten mich also anziehen, damit meine Klettervergürtung auch korrekt angelegt war, und dann hat Scott mich an den Fixseilen runtergelassen.« Als Kruse schließlich im Basislager angekommen war, hat es, wie er sagt, »noch weitere drei, vier Tage gedauert, bevor ich von meinem Zelt zum Speisezelt gehen konnte, ohne alle paar Schritte hinzufallen«.
    Als die Abendsonne hinter den Pumori sank, fiel die Temperatur auf Camp Drei um mehr als dreißig Grad, und mit der kalt werdenden Luft verschwand auch meine Benommenheit: Meine Angst, ein Gehirnödem zu bekommen, stellte sich als unbegründet heraus, zumindest vorerst. Am nächsten Morgen, nach einer erbärmlichen schlaflosen Nacht in 7300 Metern Höhe, stiegen wir auf Camp Zwei hinab, und einen Tag darauf, am i. Mai, ging es zurück ins Basislager, um für unseren großen Anstieg auf den Gipfel wieder zu Kräften zu kommen.
    Unsere Akklimatisierung war nun offiziell abgeschlossen und zu meiner angenehmen Überraschung schien Halls Strategie

Weitere Kostenlose Bücher