In eisige Höhen
zurück. »Ist schon ein gutes Gefühl, endlich auf dem Weg zum Gipfel zu sein, oder?« fragte Andy. Die meiste Zeit über während der Expedition hatte er wegen verschiedener Magen-Darm-Erkrankungen flachgelegen und kam nun endlich wieder zu Kräften. Andy besaß eine erstaunliche Geduld, wenn es darum ging, den Leuten etwas zu erklären oder beizubringen. Normalerweise wurde er dazu abgestellt, über die langsameren Kletterer am Ende des Zuges zu wachen. Er war ganz begeistert, als Rob ihm heute morgen die Freiheit ließ, vorneweg zu klettern. Als jüngerer, nachgeordneter Bergführer in Halls Team, und als der einzige, der noch nie auf dem Everest gewesen war, wollte er seinen erfahreneren Kollegen natürlich zeigen, was er drauf hatte. »Ich glaub, wir werden diesen großen Klotz tatsächlich vom Sockel stoßen«, vertraute er mir mit einem Riesenlächeln an, die Augen auf den Gipfel gerichtet.
Im späteren Verlauf des Tages kreuzte Göran Kropp, der neunundzwanzigjährige schwedische Solo-Kletterer von Camp Zwei, auf seinem Weg zum Basislager auf. Er wirkte völlig erschöpft. Am 16. Oktober 1995 war er aus Stockholm auf einem spezialangefertigten Fahrrad mit über einhundert Kilo an Ausrüstung aufgebrochen. Sein Plan war, auf Meeresspiegelhöhe von Schweden aus auf den Gipfel des Everest und zurück zu reisen. All dies sollte nur aus eigener Körperkraft, ohne Sherpas oder zusätzlichen Sauerstoff vollbracht werden. Ein äußerst ehrgeiziges Unternehmen, aber Kropp hatte das Zeug dazu: Er hatte bereits an sechs Himalaja-Expeditionen teilgenommen und Alleinbesteigungen des Broad Peak, Cho Oyo und K2 hingelegt.
Auf seiner 15000 Kilometer weiten Fahrradtour nach Katmandu war er von rumänischen Schulkindern ausgeraubt und von einer aufgebrachten Menge in Pakistan angegriffen worden. Im Iran hatte ein wütender Motorradfahrer einen Baseballschläger auf seinem (glücklicherweise behelmten) Kopf zerbrochen. Dennoch war er Anfang April mit einer Filmcrew im Schlepptau gesund und munter am Fuße des Everest angekommen und hatte sofort mit Akklimatisierungsausflügen im unteren Bereich des Berges begonnen. Dann, am Mittwoch, dem 1. Mai, war er aus dem Basislager zum Gipfel aufgebrochen.
Kropp erreichte Donnerstag nachmittag bei 7900 Metern sein Hochlager auf dem Südsattel und brach am Morgen darauf kurz nach Mitternacht zum Gipfel auf. Im Basislager blieben alle den ganzen Tag über in Reichweite ihres Funkgeräts und warteten gespannt darauf zu hören, wie er vorankam. Helen Wilton hatte in unserem Speisezelt ein Plakat aufgehängt, auf dem »Go, Göran, Go!« stand.
Zum ersten Mal seit Monaten war es auf dem Gipfel beinahe windstill. Der Schnee im oberen Bereich des Berges reichte jedoch bis zu den Oberschenkeln, was das Fortkommen mühselig und kräftezehrend machte. Kropp peitschte sich jedoch schonungslos durch das Schneegestöber nach oben, und Freitag nachmittag kam er um zwei Uhr auf 8750 Metern an, gleich unterhalb des Südgipfels. Aber obwohl der Gipfel nur noch 60 Minuten entfernt war, beschloß er umzukehren. Er war zu erschöpft und befürchtete, es nicht mehr heil nach unten zu schaffen, falls er jetzt noch höher kletterte.
»So nah vor dem Gipfel umzukehren...«, sinnierte Hall kopfschüttelnd, als Kropp am 6. Mai auf seinem Weg nach unten am Camp Zwei vorbeistapfte. »
So was
zeigt, daß der junge Göran wirklich weiß, was er tut. Ich bin beeindruckt eigentlich wesentlich mehr beeindruckt, als wenn er weitergeklettert und den Gipfel geschafft hätte.« Den vergangenen Monat über hatte Rob uns immer wieder einzubleuen versucht, wie wichtig es ist, an unserem Gipfeltag eine vorher festgelegte Umkehrzeit zu haben – in unserem Fall sollte dies voraussichtlich ein Uhr nachmittags sein oder spätestens zwei Uhr – und sich auch daran zu halten, egal, wie nahe wir dem Gipfel gekommen wären. »Mit der erforderlichen Entschlossenheit kommt heutzutage jeder Vollidiot auf diesen Berg
hinauf«,
bemerkte Hall. »Das Kunststück ist aber, lebend wieder hinunterzukommen. «
Hinter seiner gespielten Gelassenheit verbarg Hall, wie sehr ihm daran lag, die Expedition erfolgreich abzuschließen – was für ihn ganz einfach hieß, so viele Kunden wie möglich auf den Gipfel zu hieven. Damit dieser Erfolg auch eintrat, schenkte er jedem kleinen Detail größte Beachtung: der Gesundheit der Sherpas, der Funktionstüchtigkeit des sonnenenergiebetriebenen Stromsystems, der Schärfe der Steigeisen seiner Kunden.
Weitere Kostenlose Bücher