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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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sich tatsächlich auszuzahlen: Nach drei Wochen auf dem Berg kam mir die Luft im Basislager verglichen mit der erbarmungslos dünnen Atmosphäre auf den Lagern darüber dick, schwer und überreich an Sauerstoff vor.
    Aber mit meinem Körper stimmte immer noch so einiges nicht. Ich hatte beinahe zehn Kilo an Muskelmasse eingebüßt, größtenteils an Schultern, Rücken und Beinen. Außerdem hatte ich buchstäblich alles an subkutanen Fettreserven verbraucht, womit ich wesentlich empfindlicher für Kälte war. Mein schlimmstes Problem jedoch war meine Brust: der trockene Keuchhusten, den ich mir vor Wochen in Lobuje geholt hatte, hatte sich dermaßen verschlimmert, daß während eines besonders hartnäckigen Anfalls auf Camp Drei ein paar Knorpel im Brustkasten rissen. Ich hustete unablässig weiter, und jeder Ausstoß fühlte sich wie ein brutaler Tritt zwischen die Rippen an.
    Die meisten Bergsteiger im Basislager waren in ähnlich angeschlagener Verfassung – das gehörte zum Leben auf dem Everest einfach dazu. In fünf Tagen sollten wir zusammen mit Fischers Team aus dem Basislager zum Gipfel aufbrechen. In der Hoffnung, meinen körperlichen Verfall aufzuhalten, verordnete ich mir viel Ruhe, schluckte haufenweise Ibuprofen und beschloß, in der verbleibenden Zeit soviel Kalorien wie möglich hinunterzuwürgen.
    Hall hatte von Anfang an den 10. Mai als unseren Gipfeltag auserkoren. »Ich habe es viermal auf den Gipfel geschafft«, erklärte er, »und zweimal war es am 10. Mai. Wie die Sherpas es ausdrücken würden, der Zehnte ist ein ›verheißungsvoller‹ Tag für mich.« Aber es gab auch einen eher praktischen Grund dafür, daß er dieses Datum ausgewählt hatte. Der halbjährlich die Richtung wechselnde Monsun machte es wahrscheinlich, daß um den 10. Mai herum das beste Wetter des Jahres herrschte.
    Den ganzen April über war der Strahlstrom wie eine Feuerwehrspritze auf den Everest gerichtet gewesen und hatte orkanartige Winde gegen die Gipfelpyramide gepeitscht. Selbst an Tagen, an denen im Basislager ruhiges, sonniges Wetter herrschte, wehte am Gipfel eine gewaltige, vom Wind aufgetriebene Schneefahne. Aber Anfang Mai, so unsere Hoffnung, würde der aus der Bengalischen Bucht herannahende Monsun den Strahlstrom Richtung Tibet drängen. Wenn man darauf zählen konnte, daß es sich dieses Jahr mit dem Wetter so verhalten würde wie in der Vergangenheit, würden wir zwischen dem Abzug der Winde und der Ankunft des Monsuns mit einer kurzen Übergangszeit von klarem, ruhigem Wetter beschenkt werden, während der ein Gipfelangriff möglich war.
    Leider waren die alljährlichen Wetterwechsel kein Geheimnis, und sämtliche Expeditionen wollten ihr Glück während dieser Schönwetterperiode versuchen. In der Hoffnung, einen gefährlichen Stau auf dem Gipfelgrat zu vermeiden, hatte Hall im Basislager mit den Leitern der anderen Expeditionen eine große Versammlung abgehalten. Es wurde beschlossen, daß Göran Kropp, ein junger Schwede, der mit dem Fahrrad von Stockholm nach Nepal gereist war, am 3. Mai den ersten Gipfelvorstoß unternehmen würde, und zwar im Alleingang. Danach war ein Team aus Montenegro an der Reihe. Dann, am 8. oder 9. Mai, war die IMAX-Expedition dran.
    Halls Gipfeltag, so der Beschluß, war am 10. Mai, zusammen mit Fischers Team. Fetter Neby, der norwegische Solo-Kletterer, war, nachdem er von einem herabfallenden Felsbrocken beinahe erschlagen worden war, bereits weg: Er war eines Morgens in aller Stille aus dem Basislager abgereist und nach Skandinavien zurückgekehrt. Eine von den Amerikanern Todd Burleson und Fete Athans geführte Gruppe, ebenso wie Mall Duffs kommerzielle Expedition und eine andere, britische, kommerzielle Expedition, versprachen alle, am 10. Mai in den Zelten zu bleiben; die Taiwanesen ebenfalls. Ian Woodall jedoch erklärte, daß die Südafrikaner auf den Gipfel gingen, wann immer es ihnen verdammt noch mal beliebte, aller Voraussicht nach am 10. Mai, und wem dies nicht paßte, den solle der Teufel holen.
    Hall, den normalerweise kaum etwas aus der Fassung brachte, explodierte beinahe vor Wut, als er erfuhr, daß Woodall sich weigerte, in irgendeiner Form zu kooperieren. »Ich hoffe bloß, daß ich weit vom oberen Teil des Berges entfernt bin, wenn diese Wichser drauf sind«, zischte er.
     

Der Gipfelgrat des Everest, vom Südgipfel aus gesehen

 Gebetsflaggen flattern über dem Basislager

 
    In 4880 Meter Höhe, genau unter dem Khumbu-Gletscher, steht eine Reihe

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