In eisige Höhen
überzeugend, daß er in letzter Minute einer Gruppe für den Gipfelanstieg zugeteilt wurde und so am 16. Mai die Spitze des Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff erreichte.
Fünf Monate nach seiner Everest-Besteigung stand Lopsang mit einem japanischen Team auf dem Gipfel des Cho Oyu. Im Frühling 1994 arbeitete er für Fischers Umwelt-Expedition und erreichte zum zweiten Mal den Gipfel des Everest, wieder ohne Flaschensauerstoff. Im September darauf wurde er beim Versuch, mit einem norwegischen Team den Westgrat des Everest zu besteigen, von einer Lawine mitgerissen. Er stürzte knapp siebzig Meter den Berg hinunter, schaffte es aber dann irgendwie, seinen Fall mit einem Eispickel zu stoppen und damit sein Leben und das zweier Seilgefährten zu retten. Aber sein Onkel, Mingma Norbu Sherpa, der nicht an die anderen geseilt war, kam unter der Lawine ums Leben, Obwohl der Verlust Lopsang schwer traf, blieb seine Begeisterung fürs Klettern ungebrochen.
Im Mai 1995 bestieg er zum dritten Mal ohne zusätzlichen Sauerstoff den Gipfel, diesmal als Angestellter einer Hall-Expedition. Und nur drei Monate später, als er wieder in Fischers Diensten gelandet war, bestieg er den 8 047 Meter hohen Broad Peak in Pakistan. Als Lopsang 1996 mit Fischer an den Everest ging, hatte er nur drei Jahre Klettererfahrung vorzuweisen, aber in dieser kurzen Zeitspanne an nicht weniger als zehn Himalaja-Expeditionen teilgenommen und sich einen Ruf als Höhenlagen-Bergsteiger allererster Güte geschaffen.
Als sie 1994 zusammen den Everest bestiegen, entwickelte sich zwischen Fischer und Lopsang ein Gefühl gegenseitiger Bewunderung. Beide besaßen grenzenlose Energiereserven, unwiderstehlichen Charme und eine gewisse Art, bei der Frauen ins Schwärmen gerieten. Lopsang, für den Fischer Mentor und Vorbild war, begann sogar sein Haar wie Fischer zu einem Pferdeschwanz zu binden. »Scott sehr starker Typ, ich sehr starker Typ«, erklärte Lopsang mit dem für ihn typischen Mangel an Bescheidenheit. »Wir zusammen gutes Team. Scott zahlt mich nicht so gut wie Rob oder Japaner, aber ich Geld nicht brauchen. Ich in die Zukunft blicken, und Scott meine Zukunft. Er mir sagen: ›Lopsang, mein starker Sherpa! Ich mache dich berühmt !‹... Ich glaube, Scott hat für mich mit Mountain Madness viele große Pläne.«
KAPITEL ZEHN
Die Lhotse-Flanke
29. April 1996
7.150 Meter
In der amerikanischen Öffentlichkeit bestand nicht die Sympathie fürs Bergsteigen, wie sie in den europäischen Alpenländern oder bei den Briten, den Erfindern dieses Sports, Tradition ist. In jenen Ländern gab es so etwas wie ein Verständnis dafür, und auch wenn der Mann auf der Straße es vielleicht im großen und ganzen für leichtsinnig und halsbrecherisch hielt, sah er doch ein, daß es etwas war, das getan werden mußte. In Amerika gab es diese Akzeptanz einfach nicht.
WALT UNSWORTH
Everest
Einen Tag nachdem unser erster Versuch, zu Camp Drei vorzustoßen, durch Wind und barbarische Kälte vereitelt worden war, probierten es in Halls Team alle außer Doug (der auf Camp Zwei blieb, um seinen wunden Kehlkopf zu kurieren) aufs neue. An einem halb durchgescheuerten Nylonseil von scheinbar endloser Länge hangelte ich mich dreihundert Meter weit an der gewaltigen Schräge der Lhotse-Flanke hoch. Je höher ich stieg, desto träger und abgeschlaffter wurden meine Bewegungen. Ich schob meinen Jumar in Handschuhen an dem Seil hoch und ruhte mich mit meinem Gewicht darauf aus, um zweimal schneidend kalte Luft zu schöpfen. Dann hob ich den linken Fuß, stampfte das Steigeisen ins Eis und atmete weitere zweimal tief durch. Jetzt war der rechte Fuß dran, den ich neben den linken setzte; einatmen, ausatmen, zweimal; und dann wieder den Jumar das Seil hoch. In den letzten drei Stunden hatte ich mich völlig verausgabt, und ich rechnete damit, noch mindestens eine weitere Stunde schuften zu müssen. So mühte ich mich in Zuwächsen, die in Zentimeter bemessen werden konnten, auf eine Gruppe von Zelten zu, die sich angeblich oben auf der Steilwand befanden.
Nicht-Bergsteiger – also genaugenommen die Mehrzahl der Menschheit – tendieren dazu, in dem Sport eine waghalsige, lustvolle Suche nach endlos eskalierendem Nervenkitzel zu sehen. Aber die Ansicht, daß Bergsteiger nichts als Adrenalin-Junkies sind, die ihrem geheiligten Fix hinterherlaufen, ist zumindest im Fall des Everest ein Trugschluß. Das, was ich dort oben trieb, hatte so gut wie nichts mit
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