In eisige Höhen
würde.
Eine halbe Stunde nach dem Südgipfel kam ich am Fuße der Hillary-Stufe an. Die über zehn Meter hohe, fast senkrechte Felsstufe gehört zu den berühmtesten Steilstücken in der Welt des Bergsteigens, und beim Anblick ihrer Fels- und Eispartien stockte einem das Blut in den Adern, aber wie wohl jeder echte Kletterer lechzte ich danach, das »scharfe Ende des Seils« zu nehmen und als Seilerster vorauszuklettern. Es war jedoch klar, daß Boukreev, Beidleman und Harris das gleiche fühlten, und es war wohl nicht mehr als eine dem Sauerstoffmangel entsprungene Illusion meinerseits, zu glauben, daß auch nur einer sich von einem Kunden diese so heißbegehrte Aufgabe wegschnappen lassen würde.
Am Ende beanspruchte Boukreev – als leitender Bergführer und der einzige unter uns, der den Everest bereits bestiegen hatte – die Ehre für sich. Zusammen mit Beidleman, der das Seil weggab, überwand er das Steilstück in meisterhafter Kletterarbeit. Aber die Sache dauerte, und ich blickte nervös auf meine Uhr und fragte mich, ob mir vielleicht der Sauerstoff ausgehen würde. Mein erster Behälter war um 7 Uhr auf dem Balkon aufgebraucht gewesen und hatte damit ungefähr sieben Stunden gehalten. Über den Daumen gepeilt hieß dies, wie ich mir auf dem Südgipfel ausgerechnet hatte, daß mein zweiter Behälter so gegen 14 Uhr leer sein würde. Ich nahm dummerweise an, das ließe mir genügend Zeit, den Gipfel zu erreichen und auf den Südgipfel zurückzukehren, um mir meine dritte Flasche zu holen. Mittlerweile war es jedoch schon nach eins, und allmählich regten sich in mir ernsthafte Zweifel.
Oben auf der Stufe teilte ich Beidleman meine Besorgnis mit. Ich fragte ihn, ob er was dagegen hätte, wenn ich schnell zum Gipfel vorauseilte, anstatt ihm weiter dabei zu helfen, die letzte Seilrolle am Gipfelgrat entlang zu befestigen. »Nur zu«, sagte er herzlich. »Ich mach das hier schon.«
Als ich die letzten Meter zum Gipfel hochstapfte, hatte ich beinahe das Gefühl, unter Wasser zu gehen, so als bewegte sich das Leben nur mit Viertelgeschwindigkeit fort. Und dann stand ich plötzlich auf einem schmalen Eiskeil – verziert von einer weggeworfenen Sauerstoff-Flasche und einem verwitterten Vermessungspfahl aus Aluminium –, an dem es nicht mehr weiterging. An einem Strick aufgefädelte buddhistische Gebetsfahnen flatterten im stürmischen Wind. Weit unten, auf einer Seite des Berges, an der ich nie auch nur hinuntergeblickt hatte, breitete sich, so weit das Auge reichte, das tibetanische Trockenplateau aus, eine unermeßliche Fläche aus dunkelbrauner Erde.
Auf dem Gipfel des Everest zu stehen soll angeblich einen ganzen Schwall von Hochgefühlen in einem auslösen. Entgegen allen Erwartungen hatte ich nun doch noch ein Ziel erreicht, von dem ich seit meiner Kindheit geträumt hatte. Aber der Gipfel war letztlich nur die halbe Miete. Auch der bescheidenste Wunsch, mir selbst zu gratulieren, wurde von einer düsteren Vorahnung von dem, was mir nun bevorstand, überschattet der lange, gefährliche Abstieg.
KAPITEL VIERZEHN
Gipfel 13 Uhr 12
10. Mai 1996
8.848 Meter
Nicht nur beim Aufstieg, auch beim Abstieg stumpft meine Willenskraft ab. Je länger ich steige, desto weniger wichtig erscheint mir das Ziel, desto gleichgültiger werde ich mir selbst. Meine Aufmerksamkeit hat nachgelassen, mein Gedächtnis ist geschwächt. Meine geistige Ermattung ist jetzt noch größer als die körperliche. Es ist so angenehm, tatenlos dazusitzen, und deshalb so gefährlich. Der Tod durch Erschöpfung ist – wie der Tod durch Erfrieren – ein angenehmer.
REINHOLD MESSNER
Der gläserne Horizont
In meinem Rucksack steckte eine Fahne von
Outside –
ein kleiner Wimpel, verziert mit einer skurrilen Eidechse, die meine Frau Linda aufgestickt hatte; und da waren noch ein paar andere Andenken, die ich alle dabeihatte, um mich mit ihnen in Jubelpose fotografieren zu lassen. Meine schwindenden Sauerstoffreserven machten mir jedoch weiter Sorgen, ich ließ alles im Rucksack und schoß nur noch kurz vier Fotos von Andy Harris und Anatoli Boukreev vor dem Vermessungspfahl – dies war mein Aufenthalt auf dem höchsten Punkt der Erde. Ich drehte mich um und begann mit dem Abstieg. Ungefähr zwanzig Meter unterhalb des Gipfels kamen mir Neal Beidleman und ein Kunde Fischers, Martin Adams, entgegen. Nachdem Neal und ich uns gratuliert hatten, schnappte ich mir noch schnell ein paar kleine Steinchen von einem freiliegenden Stück
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