In eisige Höhen
das taiwanesische Team, das ein besonders lahmes Tempo ging. »Die haben wirklich einen eigenartigen Kletterstil draufgehabt, ganz nah beieinander«, erzählt Hutchison, »beinahe wie Brotscheiben im Brotlaib, einer hinter dem anderen. War fast unmöglich, sie zu überholen. Wir haben ganz schön lange warten müssen, bis sie an den Seilen oben waren.«
Vor unserem Gipfelvorstoß hatte Hall im Basislager zwei mögliche Umkehrzeiten erwogen – entweder 13 Uhr oder 14 Uhr. Er gab jedoch nie bekannt, an welche von diesen Zeiten wir uns nun zu halten hatten – was seltsam war, wenn man bedenkt, welche Vorträge er uns über die Bedeutung einer vorher bestimmten, unbedingt einzuhaltenden Umkehrzeit gehalten hatte. Alles, was wir hatten, war eine vage ausgesprochene Vereinbarung, daß Hall eine endgültige Entscheidung erst am Gipfeltag treffen würde, nachdem er das Wetter und andere Faktoren eingeschätzt hatte. Dann würde er persönlich die Verantwortung dafür übernehmen, alle zum richtigen Zeitpunkt umkehren zu lassen.
Am frühen Vormittag des 10. Mai hatte Hall unsere genaue Umkehrzeit immer noch nicht bekanntgegeben. Hutchison, von Natur aus konservativ, ging davon aus, daß es 13 Uhr sein würde. Gegen 11 Uhr hatte Hall gegenüber Hutchison und Taske erklärt, daß der Gipfel noch drei Stunden entfernt sei, und dann war er eiligst losgesprintet, um zu versuchen, die Taiwanesen zu überholen. »Es schien immer unwahrscheinlicher, daß wir eine Chance hatten, den Gipfel vor der Ein-Uhr-Umkehrzeit zu erreichen«, erzählt Hutchison. Eine kurze Besprechung entspann sich. Kasischke war anfänglich abgeneigt, das Handtuch zu werfen, aber Taske und Hutchison konnten ihn überzeugen. Um 11 Uhr 30 kehrten die drei Männer dem Gipfel den Rücken zu und machten sich auf den Weg nach unten. Hall gab ihnen die Sherpas Kami und Lhakpa Chhiri als Begleitung bei.
Die Entscheidung, umzukehren, muß allen drei äußerst schwergefallen sein. Das gleiche gilt für Frank Fischbeck, der sich bereits ein paar Stunden zuvor auf den Weg nach unten gemacht hatte. Bergsteigen ist ein Sport, der vor allem Menschen anzieht, die nicht leicht von einmal gesteckten Zielen abzubringen sind. Zu jener Spätphase der Expedition hatten wir alle bereits dermaßen viele Qualen und Gefahren hinter uns, daß weniger ausgeglichene Naturen längst die Sachen gepackt hätten und abgereist wären. Um so weit vorzudringen, mußte man schon von ungewöhnlich hartem, ausdauerndem Schlag sein.
Unglücklicherweise sind gerade jene, die darauf programmiert sind, Schmerzen einfach zu ignorieren und immer weiter gen Gipfel zu ziehen, regelmäßig auch darauf programmiert, die Zeichen großer, nahe bevorstehender Gefahren zu übersehen. Dem entspringt ein zentrales Dilemma, in dem sich jeder Everest-Besteiger irgendwann befinden wird: Nur wer extrem motiviert ist, kommt durch, aber wer übermotiviert ist, findet möglicherweise den Tod. Darüber hinaus wird in Höhen über 8000 Metern die Trennungslinie zwischen angemessenem Eifer und versessenem Gipfelfieber immer dünner. Kein Wunder also, daß die Hänge des Everest von Leichen übersät sind.
Taske, Hutchison, Kasischke und Fischbeck hatten jeder 65.000 Dollar ausgegeben und sich wochenlang abgequält, nur um diese eine Chance auf den Gipfel zu erhalten. Sie waren alle ehrgeizige Männer, die es nicht gewöhnt waren zu verlieren und noch weniger aufzugeben. Und doch, vor eine schwierige Entscheidung gestellt, gehörten sie zu den wenigen, die an jenem Tag die richtige trafen.
Oberhalb der Felsstufe, an der John, Stuart und Lou den Rückzug antraten, endeten die Fixseile. Die Route schlängelte sich nun steil aufwärts an einem anmutigen Bergkamm mit vom Wind gefestigtem Schnee entlang, der vom Südgipfel gekrönt wurde – den ich um 11 Uhr erreichte, nur um auf einen weiteren, noch schlimmeren Stau zu stoßen. Ein wenig höher, scheinbar nur einen Steinwurf entfernt, befand sich die senkrecht klaffende Einkerbung der Hillary-Stufe und ein wenig dahinter der Gipfel selbst. Sprachlos von der Schönheit der Aussicht, aber auch vor Erschöpfung, machte ich ein paar Fotos. Dann hockte ich mich zusammen mit den Bergführern Andy Harris, Neal Beidleman und Anatoli Boukreev auf den Boden, um darauf zu warten, daß die Sherpas den spektakulär überhängenden Gipfelgrat mit Seilen versahen.
Mir fiel auf, daß Boukreev, ebenso wie Lopsang, keinen zusätzlichen Sauerstoff benutzten. Obwohl der Russe den
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