In eisige Höhen
Südgipfel zu erreichen, wo meine dritte Sauerstoff-Flasche auf mich wartete. Ich fing an, mich mit unsicheren Bewegungen am Fixseil hinunterzulassen, wie gelähmt vor Angst. Gleich unterhalb der Felsstufe pesten Anatoli und Martin an mir vorbei und eilten hinunter. Extrem vorsichtig geworden, stieg ich weiter am Seil entlang den Kamm hinunter. 50 Meter vor dem Sauerstoffvorratslager endete das Seil jedoch, und ich scheute mich davor, ohne neue Sauerstoff-Flasche weiterzugehen.
Drüben am Südgipfel sah ich, wie Andy Harris an einem Stapel orangefarbener Sauerstofflaschen zugange war. »He, Harold!« rief ich. »Kannst du mir mal eine frische Flasche bringen?«
»Hier ist kein Sauerstoff!« rief der Bergführer zurück. »Die Flaschen sind alle leer.« Höchst beunruhigende Neuigkeiten. Mein Gehirn schrie nach Sauerstoff. Ich wußte nicht mehr ein noch aus. In diesem Moment schloß Mike Groom zu mir auf. Mike hatte den Everest 1993 ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen, und es machte ihm nicht allzuviel aus, den Abstieg ohne fortzusetzen. Er gab mir also seine Flasche, und wir kraxelten schnell zum Südgipfel rüber.
Als wir dort ankamen, ergab eine kurze Überprüfung des Vorratslagers, daß dort mindestens sechs volle Flaschen waren. Andy wollte dies jedoch einfach nicht wahrhaben. Er beharrte weiter darauf, daß sie alle leer seien, und nichts, was Mike und ich sagten, konnte ihn vom Gegenteil überzeugen.
Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, wieviel Sauerstoff in einem Behälter steckt, ist, ihn an einen Regler anzuschließen und den Sauerstoffanzeiger zu lesen; wahrscheinlich hatte Andy genau dies getan, um die Flaschen auf dem Südgipfel zu überprüfen. Neal Beidleman wies nach der Expedition darauf hin, daß Andys Regler möglicherweise vereist war und der
Anzeiger deshalb leer registrierte, obwohl die Behälter voll waren. Falls sein Regler kaputt war und keinen Sauerstoff an seine Maske abgab, dann wäre damit auch eine Erklärung für Andys offensichtlichen Mangel an klarem Verstand gefunden.
Diese Erklärung – die sich nun geradezu aufdrängt – ist jedoch damals weder mir noch Mike in den Sinn gekommen. Im nachhinein besehen, verhielt sich Andy völlig irrational und war weit über das Stadium gewöhnlicher Sauerstoffmangelsymptome hinausgerückt, aber ich selbst war geistig dermaßen behindert, daß ich dies nicht wahrnahm.
Meine Unfähigkeit, das Offensichtliche zu erkennen, beruhte teilweise auf die verbindliche Stellung, die der Bergführer gegenüber uns Kunden einnahm. Andy und ich standen, was körperliche Fertigkeiten und technisches Können anging, mehr oder minder auf der gleichen Stufe. Wenn wir uns beide als gleichwertige Partner auf einer Tour ohne Bergführer befunden hätten, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß mir sein Zustand nicht aufgefallen wäre. Aber auf dieser Expedition war ihm die Rolle des unfehlbaren Bergführers zugefallen, dessen Aufgabe es war, auf mich und die anderen Kunden aufzupassen. Uns war immer wieder eingetrichtert worden, das Wort eines Bergführers nicht in Frage zu stellen. Der Gedanke, daß Andy sich vielleicht tatsächlich in einer Notlage befinden könnte, hat nie Eingang in mein angeschlagenes Hirn gefunden – die Vorstellung, daß ein Bergführer dringend meine Hilfe brauchte.
Als Andy weiterhin darauf bestand, daß es auf dem Südgipfel keine vollen Flaschen gäbe, blickte Mike mich erstaunt an. Ich erwiderte seinen Blick und zuckte mit den Schultern. Ich wandte mich Andy zu und sagte: »Kein Problem, Harold. Viel Lärm um nichts.« Ich schnappte mir einen neuen Sauerstoffbehälter, schraubte ihn an meinen Regler und setzte meinen Weg nach unten fort. Wenn ich nun an die Tragödie denke, die in den Stunden danach ihren Lauf nahm, war die Ungeniertheit, mit der ich mich von jeder Verantwortung losgesagt hatte – mein völliges Versagen, als es darum ging zu erkennen, daß Andy in
ernsten Schwierigkeiten steckte – ein Versagen, das mich wohl für den Rest meines Lebens verfolgen wird.
So gegen 15 Uhr 30 verließ ich vor Mike, Yasuko und Andy den Südgipfel, und fast sofort wurde ich von einer dichten Wolkendecke verschluckt. Leichte Schneefälle setzten ein. In dem stumpfen schwindenden Licht konnte ich kaum noch erkennen, wo der Berg endete und wo der Himmel anfing; ein paar täppische Schritte vom Gipfelgrat weg, und schon war man auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Je weiter ich nach unten kam, desto schlimmer wurde es.
Am
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