In eisige Höhen
Everest bereits zweimal ohne komprimierte Luft bestiegen hatte und Lopsang dreimal, war ich doch überrascht, daß Fischer ihnen erlaubt hatte, ihre Arbeit ohne sie zu verrichten, was nicht im besten Interesse der Kunden zu sein schien. Ich war ebenfalls überrascht, als ich sah, daß Boukreev keinen Rucksack hatte normalerweise trägt ein Bergführer einen Sack mit Seil, Verbandskasten, Ausrüstungsteilen zum Bergen aus Gletscherspalten, zusätzlicher Kleidung und noch ein paar andere Dinge für den Fall, daß ein Klient in Not geriet. Boukreev war der erste Bergführer, den ich je gesehen hatte – auf welchem Berg auch immer –, der diese Konvention mißachtete.
Es stellte sich heraus, daß er von Camp Vier sowohl mit einem Rucksack als auch mit einer Sauerstoff-Flasche aufgebrochen war. Später sagte er mir, daß er, obwohl er nicht die Absicht gehabt hätte, den Sauerstoff zu benutzen, eine Flasche griffbereit im Gepäck haben wollte, falls ihm »die Kraft ausginge« und er sie oben auf dem Gipfel gebrauchen könne. Als er jedoch den Balkon erreichte, warf er den Rucksack weg und gab Sauerstoffbehälter, Maske und Regler Neal Beidleman, den er bat, die Sachen für ihn zu tragen – offensichtlich in der Absicht, seine Gepäcklast auf ein Minimum zu reduzieren und sich in der extrem dünnen Luft jeden erdenklichen Vorteil zu verschaffen.
Auf dem Gipfelgrat wehte ein vierzig Kilometer starker Wind, der diesige Schneefahnen bis weit über die Kangshung-Wand hinwegblies. Aber über uns strahlte der Himmel
so blau, daß einem die Augen schmerzten. Als ich so bei 8 750 Metern, eingepackt in meinen dicken Daunenanzug und ganz benommen vom schleichenden Sauerstoffmangel, in der Sonne herumsaß und über das Dach der Welt hinwegblickte, verlor ich völlig jedes Zeitgefühl. Keiner von uns schien sich allzuviel dabei zu denken, daß Ang Dorje und Ngawang Norbu, ein weiterer Sherpa in Halls Team, neben uns saßen, thermosgewärmten Tee mit uns tranken und es offensichtlich nicht sehr eilig hatten, höher zu gehen. So gegen zwanzig vor zwölf fragte Beidleman schließlich: »Hey, Ang Dorje, meinst du, du wirst heute noch mal die Seile befestigen, oder was ist los?« Ang Dorjes Antwort war ein rasches, endgültiges »Nein« – vielleicht weil keiner von Fischers Sherpas aufgetaucht war, um sich an der Arbeit zu beteiligen.
Beidleman, den der Stau am Südgipfel immer mehr beunruhigte, erweckte Harris und Boukreev aus ihrer Lethargie und schlug dringend vor, daß die drei Bergführer die Seile selbst anbringen sollten. Als ich dies hörte, bot ich rasch meine Hilfe an. Beidleman zog ein aufgerolltes, 50 Meter langes Seil aus seinem Rucksack, ich schnappte mir eine weitere Rolle von Ang Dorje, und um die Mittagszeit machten wir uns mit Boukreev und Harris auf den Weg, um den Gipfelgrat mit Seilen zu sichern. Inzwischen war jedoch bereits eine weitere Stunde ungenutzt verstrichen.
Der Gipfel des Everest fühlt sich auch mit in Druckluftbehältern abgefülltem Sauerstoff nicht wie Meeresspiegelhöhe an. Als ich über den Südgipfel kletterte, mein Regulierungsventil auf zwei Liter Sauerstoff pro Minute eingestellt, mußte ich nach jedem mühseligen Schritt anhalten und drei-, viermal tief durchatmen. Dann setzte ich den Fuß einen weiteren Schritt vor, dann wieder anhalten und viermal tief Luft schöpfen – ein schnelleres Tempo vorzulegen wäre über meine Kräfte gegangen. Da das Sauerstoffsystem, das wir benutzten, letztlich nur eine dürftige Mischung aus komprimierter Luft und Luft der Umgebung abgab, fühlten sich 8.800 Meter mit zusätzlichem Sauerstoff an wie 7.800 Meter ohne denselben. Aber die komprimierte Luft hatte andere Vorteile, die nicht so leicht in Zahlen auszudrükken sind.
Als ich so auf dem klingenschmalen Gipfelgrat entlangkletterte und komprimierte Luft in meine geschundenen Lungen saugte, stieg in mir ein seltsam angenehmes, nicht wirklich erklärbares Gefühl der Ruhe auf. Die Welt hinter der Gummimaske war von einer erstaunlichen Intensität, aber irgendwie nicht ganz real, so als würde ein Film in Zeitlupe auf die Gläser meiner Schneebrille projiziert werden. Ich fühlte mich wie im Drogenrausch, entrückt, vollkommen isoliert von der äußeren Welt und ihren Reizen. Immer wieder mußte ich mir in Erinnerung rufen, daß sich links und rechts von mir nichts als 2000 Meter freier Himmel befand, daß es hier um alles ging, daß ich für einen einzigen Fehltritt mit meinem Leben zahlen
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