In eisige Höhen
hatte er an ihrem letzten Abend im Basislager den bevorstehenden Gipfelvorstoß gefeiert und jede Menge
Chhang
gebechert – ein dickflüssiges süßliches Bier, aus Reis und Hirse gebraut. Am nächsten Morgen war er schwer verkatert und ganz aufgewühlt; und noch vor dem Anstieg durch den Gletscherbruch vertraute er einem Freund an, daß ihm in der Nacht Gespenster erschienen waren. Ang Dorje, ein tief religiöser junger Mann, war nicht der Typ, der derartige Omen auf die leichte Schulter nimmt.
Es war jedoch auch möglich, daß er einfach sauer auf Lopsang war, den er für einen Schaumschläger hielt. 1995 hatte Hall für seine Everest-Expedition sowohl Lopsang als auch Dorje angeheuert, und die Zusammenarbeit der beiden Sherpas war alles andere als optimal verlaufen.
Am Gipfeltag jenes Jahres hatte Halls Team den Südgipfel erst recht spät, gegen 13 Uhr 30, erreicht und war dort auf eine tiefe, locker sitzende Schneedecke gestoßen, die das letzte Stück des Gipfelgrats unter sich begrub. Hall schickte einen australischen Bergführer namens Guy Cotter mit Lopsang, und nicht mit Ang Dorje, voraus, um festzustellen, inwieweit es sinnvoll war, höher zu klettern – und Ang Dorje, der bei der Besteigung der Sirdar war, fühlte sich dadurch herabgesetzt. Wenig später, als Lopsang sich bis an den Fuß der Hillary-Stufe vorgearbeitet hatte, entschied Hall, den Gipfel sausenzulassen, und gab Cotter und Lopsang das Zeichen, umzukehren. Lopsang ignorierte jedoch den Befehl, machte sich von Cotter los und kletterte allein Richtung Gipfel weiter. Hall war über Lopsangs Ungehorsam in eine Stinkwut geraten, und Dorje hatte den Verdruß seines Chefs geteilt.
Obwohl sie dieses Jahr für verschiedene Teams arbeiteten, war Ang Dorje wiederum gebeten worden, am Gipfeltag mit Lopsang zusammenzuarbeiten – und wieder schien Lopsang aus dem Ruder zu laufen. Ang Dorje hatte sechs lange Wochen über seine Pflichten hinaus hervorragende Arbeit geleistet. Nun jedoch hatte er es allem Anschein nach satt, mehr als das Seine zu tun. Er hockte mit mürrischem Gesicht neben mir im Schnee und wartete auf Lopsang – und die Seile wurden nicht angebracht.
Folglich geriet ich, anderthalb Stunden nachdem ich vom Balkon aufgebrochen war, mitten in einen Stau, bei 8.500 Metern, an einer Stelle, an der die kunterbunt miteinander vermischten Teams auf eine Reihe wuchtiger Felsstufen stießen, die nur mit Seilen sicher zu passieren waren. Während der Kundenpulk sich am Felssockel fast eine Stunde lang die Beine in den Bauch stand, rackerte Beidleman – in Vertretung eines abwesenden Lopsangs – sich damit ab, das Seil abzuwickeln.
Hier hätte die Ungeduld und technische Unbeschlagenheit Yasuko Nambas, einer von Halls Kundinnen, beinahe eine Katastrophe verursacht. Yasuko, eine erstklassige Geschäftsfrau, die für Federal Express, Tokio, arbeitete, paßte nicht in das Klischee der sanftmütig lächelnden, rücksichtsvollen japanischen Frau mittleren Alters. Zu Hause, wie sie mir mit einem Lachen erzählte, kochte und putzte ihr Mann. Ihr Streben nach dem Gipfel des Everest war in Japan zu einer kleineren Cause celebre geworden. Am Anfang der Expedition war sie noch eine eher betuliche, unsichere Kletterin gewesen, aber heute, den Gipfel im Fadenkreuz, war sie so energiegeladen wie nie zuvor. »Von dem Augenblick an, als wir am Südsattel ankamen«, erzählt John Taske, der mit ihr auf Camp Vier das Zelt geteilt hatte, »war Yasuko total auf den Gipfel fixiert – beinahe als wäre sie in Trance.« Seitdem wir den Sattel verlassen hatten, hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt und sich nach und nach an die Spitze der Schlange gedrängelt.
Und jetzt, als sich Beidleman ohne wirklich festen Halt an einen Felsen 30 Meter über dem Kundenpulk klammerte, hakte die übereifrige Yasuko ihr Jumar in das baumelnde Seil ein, bevor der Bergführer sein Ende festgemacht hatte. Einen Moment später hing sie sich auch schon mit ihrem ganzen Gewicht ans Seil – wodurch Beidleman beinahe in die Tiefe gerissen worden wäre. Mike Groom konnte gerade noch rechtzeitig dazwischen gehen. Anschließend rügte er sie sanft dafür, daß sie so ungeduldig war.
Der Stau an den Seilen wuchs mit jedem ankommenden Kletterer, so daß jene am Ende des Gedränges immer weiter zurückfielen. Am Vormittag fingen drei von Halls Kunden – Stuart
Hutchison, John Taske und Lou Kasischke – an, sich ernsthaft Sorgen über die Verzögerungen zu machen. Direkt vor ihnen war
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