In eisigen Kerkern (German Edition)
noch einmal erleben. Wenn Wächter so irre war wie sein Vorgänger, der womöglich noch lebte und beide es gemeinsam auf sie abgesehen hatten, dann ging es nicht um Monika oder Geld, sondern einzig und allein darum, zu vollenden, was Nelli in jener Nacht um Haaresbreite hatte verhindern können.
Sie wusste selbst, dass es so nicht sein konnte, dass es nicht mit dem Verlauf des Überfalls am Gletscher übereinstimmte, aber die Panik war so groß, dass sie alles überschwemmte, jeden klaren Gedanken, jede Logik.
Während der Wartezeit bis zum Anruf in München hatte sie unter Einfluss ihres Fluchttriebes ihr Fahrrad startbereit machen wollen und dabei festgestellt, dass sie trotz der Reparaturmaßnahmen des freundlichen Unbekannten mit dem zerbeulten Wrack nicht mal ins Tal kommen würde. Was ihr die Touristen in ihre Satteltaschen gepackt hatten, war, von einem Schraubenschlüssel und einer Zange abgesehen, genauso unbrauchbar wie die Fetzen und Schnipsel in der Plastiktüte. Der Angreifer hatte sogar die Luftpumpe zerbrochen und den Inhalt des Reifenflick-Sets ausgeleert und unauffindbar übers Geröll verstreut. Er hatte die Zeltstangen geknickt, die Zeltwand zerschlitzt, und zwar ganz klar mit einem scharfen Gegenstand.
Das einzig noch Verwendbare war ihr Schlafsack. Sie rollte ihn zu einem kissenartigen Päckchen zusammen, in das sie die Zange und den Schraubenschlüssel steckte. Den Rest ließ sie in der Liftstation. Wächter konnte damit machen, was er wollte, konnte das Zeug der Müllabfuhr mitgeben oder es als Nelli-Relikte in sein Museum des Schreckens integrieren, was wohl wahrscheinlicher war. Nelli musste nicht mal Abschied von den Überbleibseln nehmen, es war ihr egal.
Ihren Schlafsack mit einer Schlaufe über die Schulter gestreift, ging sie zur Hütte, durch den Hintereingang hinein, rief nach Wächter, bekam keine Antwort, holte sich bei der Köchin die Erlaubnis, das Satellitentelefon zu benutzen, hockte sich auf den Stuhl, den Schlafsack als Kissen untergelegt, und drückte die Wahlwiederholungstaste.
„Jetzt hören Sie mir erst mal zu“, verlangte die Herolder, und ihre Stimme war alles andere als ein Flüstern. „Ihr kleiner Freund Rolf ist weder Student noch hat er sonst irgendeine Qualifikation für den Redakteursberuf.“
Die Herolder unterbrach sich, und Nelli hörte ein fauchendes Saugen und druckvolles Ausstoßen. So in Fahrt, aber ein Nikotinkick zwischendurch musste einfach sein. Nelli nutzte die Sekundenpause, um einzuhaken:
„Aber...“
„Nichts aber, es kommt noch besser: Der hat nicht mal einen Volksschulabschluss. Zuletzt war er als Schreiner-Lehrling in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt. Ich hab dort angerufen. Jetzt raten Sie mal, warum er da rausgeflogen ist.“
„Keine Ahnung.“
„Ständige Ausraster. Mal lieb und zuckersüß, dann wieder auf 180. Und aufdringlich, dass es kaum auszuhalten ist. Wenn er es auf jemanden abgesehen hat, dann schleicht er ständig um diesen armen Menschen herum, verfolgt ihn heimlich – kommt Ihnen das bekannt vor?“
„Aber was soll das mit dem Journalismus?“
„Ist eben sein Traumberuf. Auch Beknackte haben Träume. Der hält sich sogar für einen Dichter und hat in der Schreinerei ständig Zettel vollgekritzelt, statt was zu arbeiten, was übrigens auch ein Entlassungsgrund war. Aber bei unserem Verlag beworben hat er sich natürlich nicht. Der hängt hier nur rum. Dem Pförtner ist er schon drei Mal aufgefallen. Einmal hat er ihn gescheucht, weil er die Einfahrt zum Parkplatz blockiert hat.“
„Aber was will er denn noch da, wenn ich doch schon lange weg bin?“
„Vielleicht hat er das nicht mitgekriegt. Oder er hat es auf mich abgesehen, weil ich ihn habe abblitzen lassen, was weiß ich. Jedenfalls haben wir genug, um die Polizei auf ihn anzusetzen.“
„Hat er denn die Briefe geschrieben?“
„Keine Ahnung. Aber das werden wir dann ja bald wissen. Eine klapprige Schreibmaschine würde gut zu seiner klapprigen Karre und seinen Reporter-Träumen passen.“
Die Herolder wartete auf eine Reaktion, aber Nelli schwieg.
„Was denn?“
„Ich weiß nicht.“
„Sie wissen was nicht?“
„Ganz normal kam mir Rolf ja auch nicht vor, aber das traue ich ihm dann doch nicht zu.“
„Wenn Sie ihm das nicht zutrauen, kann ja auch nichts passieren, wenn wir nun endlich mal die Polizei einschalten. Ich fühle mich nicht gerade wohl in meiner Rolle als Mitverheimlicherin eines Verbrechens.“
„Ein Verbrechen ist
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