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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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eine Kleinigkeit und leicht zu verschmerzen verglichen mit dem, was seitdem infolge dieser einen Entscheidung alles in die Brüche gegangen und zerstört worden war, Tagebuch eingeschlossen.
    Aber man wusste eben nie, was in der jeweiligen Situation richtig oder falsch war. Vielleicht würde sie in der Zukunft, wenn sie ein drittes Mal hier vorbeikäme, auch ihre heutige Entscheidung verfluchen, nicht auf die Herolder gehört zu haben und nach München gefahren zu sein. Oder umgekehrt. Man wusste es nicht. Und deshalb war es einerlei, ob sie hier die Nacht verbrachte, unter freiem Himmel, und morgen was auch immer tat, oder ihre Entscheidung durchzog und das Dorf aufsuchte.
    Zwei Kehren weiter sah Nelli außerhalb des Dorfes eine Scheune am Straßenrand stehen. Darauf hielt sie zu, und als sie dort ankam, war es so dunkel, dass sie nur durch Herumtasten das Tor fand. Es ließ sich einen Spalt aufschieben, Nelli schlüpfte hindurch, genoss den Duft frischen Heus, suchte sich einen halbwegs ebenen, weichen Strohhaufen, rollte ihren Schlafsack aus und machte es sich so bequem wie möglich.
    So einfach war das jetzt also, wenn man gar nichts mehr hatte. Kein Zeltaufbau, kein Lagerfeuer, keine Angst vor nächtlichen Dieben – dafür Hunger, völlige Finsternis, Angst, vom Besitzer der Scheune erwischt zu werden. Irgendwas war immer, dachte sie noch, während sie schon anfing, in erste Traumbilder abzutauchen, irgendwas hatte man immer zu verlieren, selbst wenn man ganz unten angekommen war. Vielleicht war sie noch immer nicht tief genug unten, noch nicht weit genug weg, um endlich heimkehren zu können, einen neuen Weg zu finden, das Herumirren zu beenden. Vielleicht...
     
    Ein knatternder Traktor riss sie aus dem Schlaf. Es war längst hell. Die Sonne schien zum Spalt des Schiebetores herein, durch den sie sich in der Nacht gedrückt hatte.
    Hastig zog Nelli den Schlafsack aus, rollte ihn zusammen und schlich aus der Scheune. Der Bauer war dahinter zugange und hatte sie offenbar noch nicht bemerkt.
    Den Schlafsack über die Schulter geworfen, umrundete Nelli die Scheune und ging auf den knatternden Traktor zu. Ein Mann in einem blassblau-ausgewaschenen Arbeitsanzug war gerade dabei, den Fahrersitz zu erklimmen.
    „Guten Morgen“, rief Nelli ihm zu. „Kann ich Sie was fragen?“
    Er legte die Hand ans Ohr, zuckte mit den Schultern und machte keine Anstalten, den Motor abzustellen.
    „Eine Frage“, schrie Nelli gegen den Lärm an. „Ich suche Gerda.“
    „Wen?“, brüllte der Mann zurück.
    „Den Nachnamen weiß ich nicht. Gerda, die früher oben am Pass bei Andi gearbeitet hat.“
    „Die ist hier nimmer.“
    „Nicht mehr hier im Dorf?“
    „Naa. Was wolln Sie denn von der?“
    „Ich will nur mal mit ihr sprechen. Es geht um Andi.“
    „Was ist denn mit dem Andi?“
    Auf einmal kam Nelli ein ganz neuer Einfall.
    „Liegt der hier auf dem Dorffriedhof begraben?“
    „Was? Wieso begraben? Wer sind denn Sie überhaupt?“
    „Ich bin Nelli Prenz, sein letztes Opfer. Durch mich ist die Sache am Gletscher aufgeflogen.“
    „Sie warn das? Schaun Sie bloß, dass Sie weiterkommen. Sie will hier keiner haben im Dorf. Und runter von meinem Acker!“
    „Ich hab doch nur ein paar Fragen.“
    „Weg, runter, bevor ich dich jag, verfluchtes Luder!“
    Er machte Anstalten, von seinem Traktor zu springen, und Nelli wich instinktiv ein paar Schritte zurück.
    „Hau ab!“, schrie der Bauer gegen den Traktorlärm an und glotzte so hasserfüllt aus seinem Arbeitsanzug, dass es Nelli verging, weitere Fragen zu stellen. Sie drehte sich um und marschierte schnell davon, um die Scheune herum, auf die Straße und Richtung Dorf. Immer wieder sah sie über die Schulter, ob der Mann ihr womöglich folgte, und erst als der Traktor-Motor sich in der Ferne verlor und sie die Schritte eines möglichen Verfolgers hinter sich wieder gehört hätte, beruhigte sie sich.
    Wie in die Falle gelaufen, so kam sie sich vor. An dem musste sie wieder vorbei, wenn sie zurück zum Pass wollte. Bloß keinen Mann mehr fragen. Fragen ja, das musste sie, jetzt erst recht, aber bloß keinen Mann mehr. Wie der sie angefunkelt hatte – nicht weniger mordlüstern als Andi am Höhepunkt des Kampfes im Gletschertunnel.
    Das erste Anwesen innerhalb des Ortes war ein niedriges, altes Bauernhaus mit umlaufendem Balkon. Wunderschöner Blumengarten, ein herrlicher Sommertag, die junge Sonne lockte die Morgenwürze aus der Erde. Nellis Nase meldete Frieden in

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