In eisigen Kerkern (German Edition)
nichts mehr gehabt, aber ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, hatte sie die Option gehabt, ihre Geschichte zu Geld zu machen und ihr Leben in den Griff zu kriegen. Diese Option war jetzt verspielt.
Nelli wollte gleich zu Stefanie, sie sich vorknöpfen, überfallartig, ohne vorher anzurufen. Aber sie bog am Landratsamt nicht links ab Richtung Krötenbruck, wo Stefanie in einem millionenschweren Anwesen residierte, sondern fuhr weiter geradeaus, fuhr rechts um die Stadt herum nach Norden Richtung Theresienstein.
Es zog sie zu dem Haus, in dem sie die letzten Wochen mit Monika und sieben Jahre zuvor mit ihr und ihrem Vater gelebt, das Haus, in dem sie ihre Tagebuch-Schulhefte zurückgelassen hatte. Mehr von Bedeutung gab es dort nicht für sie, aber die Bedeutung ihrer Notizen war mit nichts aufzuwiegen.
Sie hatte im Sommer innerhalb von vier Wochen alles verloren, einschließlich ihres 1.000 Seiten dicken Tagebuches mit den Aufzeichnungen ihrer siebenjährigen Fahrrad-Weltreise. Die Sensationsreporterin Fiona Herolder hatte ihr dieses Tagebuch gestohlen, aber Nelli fing wieder an zu schreiben. Sie holte etliches von ihrer Tour, die durch alle Länder der Erde geführt hatte, zurück aus dem Gedächtnis und brachte es neu zu Papier.
Endlich gelang es ihr auch, über ihren Kampf gegen den Massenmörder Andi Czernowski zu schreiben und über ihren Neuanfang mit Monika. Wie besessen ließ sie wochenlang alles aus sich heraus, aber ausgerechnet den Neuanfang beschrieb sie nur statt ihn zu leben - sie hing mal wieder der Vergangenheit nach, statt der Gegenwart volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Dutzende blaue Schulhefte kritzelte sie voll und versteckte diese Hefte in ihrem Zimmer hinter dem Kleiderschrank zwischen Fußboden, Wand und Sockel. Damals hatte sie nicht ahnen können, dass ihr Leben erneut eine drastische Wendung nehmen würde. Aber ihre Weltreise-Erlebnisse hatten Nelli übervorsichtig gemacht, sie war immer auf alles vorbereitet und traf Vorkehrungen. Mit etwas Glück waren die Hefte noch dort, wo Nelli sie versteckt hatte.
„Verkauft!“
Bis zu diesem Moment hatte Nelli die Geschichte Monikas für Hysterie gehalten. Das Schild aber war echt. Es wies das Haus zum Verkauf aus, nannte den lächerlichen Preis von 200.000 Euro und die Telefonnummer eines Hofer Maklers, der namentlich nicht erwähnt wurde. Quer darüber prangte der Hinweis, dass ein Käufer bereits gefunden und die Sache abgewickelt sei.
Nelli steckte ihre Hand trotzdem in den Briefkastenschlitz, tastete so weit es ging darin herum. Leer. Erst an diesem Tag war Monika damit herausgerückt, dass sie den Schlüssel heimlich im Briefkasten deponiert hatte, als die beiden eine Woche zuvor losgefahren waren. Der Makler hatte ihn nun entweder selbst noch oder schon an die neuen Besitzer weitergegeben.
Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Die dunkelbraunen Jalousien waren heruntergelassen. Ein trauriger Anblick am hellen Tag. Nelli empfand heftige Verlustgefühle. Dabei war das längst nicht mehr ihr Haus gewesen. Aber sie hatte die Zeit mit Monika genossen, ihr neues Leben nach der Tragödie, das ihr jetzt vorkam wie die Ruhe vor dem Sturm.
Was mochte aus ihren Heften geworden sein? Lagen sie noch unterm Schrank? Stand der Schrank überhaupt noch an seinem Platz? Sie selbst hatte ja nichts weiter, aber was war aus Monikas Sachen geworden? Wer kaufte schon ein Haus samt Inventar einschließlich gebrauchter Kleidung des Vorbesitzers?
Sie musste zu Stefanie. Das musste geklärt werden!
Nelli schlich ums Haus herum. Sie tauchte in das borstige Gestrüpp einer Zypresse, die sich direkt neben der Haustür breitmachte, folgte der Wand entlang leicht bergab zur ersten Ecke und um diese und die nächste Ecke herum zur Hinterseite.
Kellerfenster: vergittert. Terrasse mit Panoramascheibe: Jalousien dicht an dicht. Dahinter, auf dem breiten Ledersofa des Wohnzimmers, hatte Nelli den größten Teil der zurückliegenden Wochen verbracht, hatte aus dem Fenster gestarrt oder geschrieben. Nun stand sie draußen, und es war ihr sogar verwehrt, nach innen zu schauen.
Über der Terrasse war ein Erkerchen, eine Mini-Balkonbrüstung mit Hebeschiebetür. Keine Jalousie. Sie würde mit etwas Glück da hochklettern können. Und dann? Etwa die Scheibe einschmeißen? Außerdem gab es laut Monika seit längerer Zeit schon eine Alarmanlage.
Nelli vollendete ihren Rundweg, kam über die Vertiefung der Garagenauffahrt wieder hoch zur Haustür, kippte ihr
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