In eisigen Kerkern (German Edition)
ihren Tragehenkeln fest in beiden Händen, mit den Armen seinen Oberkörper. Es klickte, als er den Gang einlegte, und im selben Moment gab er so ruckartig Gas, dass Nelli sich fest an ihn klammern musste, um nicht heruntergeschleudert zu werden.
Mit einem Kribbeln im Bauch machte sich die Angst wieder breit.
Der Weg hoch zur Unfallstelle kam Nelli vor wie eine Achterbahnfahrt. Als das Motorrad so abrupt stoppte, dass sie fest an Andis Rücken gepresst wurde, verpasste sie ihm, kaum standen die Räder still, mit einer der Taschenlampen einen Stoß gegen die Schulter.
„Sag mal, spinnst du! Ich hab keinen Helm auf!“
Sie sprang vom Sozius und war entschlossen, zu Fuß zum Haus zurückzulaufen. Andi stieg ab und bockte das Motorrad mitten auf der Straße auf, quer zur Fahrbahn und mit dem Scheinwerfer in Richtung Nellis Unfallstelle.
„Keine Bange, ich kenn die Strecke in und auswendig.“
„Willst du deine Kiste da stehen lassen?“
„Klar, warum nicht?“
„Na weil ein Auto kommen und sie rammen könnte.“
„Es kommt aber kein Auto.“
„Und wenn doch?“
„Es kommt kein Auto, weil die Strecke nachts gesperrt ist. Der Pass wird erst früh um fünf wieder freigegeben.“
„Das gibt’s doch nicht.“
Schon die ganze Zeit hatte sie sich ziemlich unsicher und allein gelassen gefühlt hier oben mit dem unberechenbaren Kerl – jetzt war klar: Sie war völlig auf sich selbst gestellt. Bis zum Morgen würde ihr niemand zu Hilfe kommen, sollte ihr irgendwas passieren.
„Also, hier ungefähr hab ich dein Fahrrad gefunden.“
Er deutete auf eine Stelle am Straßenrand im unmittelbaren Lichtkegel des Scheinwerfers.
„Und ich bin dort oben neben dem großen Felsen aufgewacht. Kaum zu glauben, dass das Fahrrad durch das ganze Geröll purzelt, während ich selbst da oben hängenbleibe.“
„Tja, es passieren manchmal die verrücktesten Sachen.“
„Und ich verstehe nicht, dass du mich nicht gesehen hast. Außerdem...“
Sie schaute ihn an, und ihr wurde noch mulmiger, als ihr sowieso schon war.
„Was außerdem?“
„Ich frag mich, was du hier oben so früh gemacht hast. Und wie du das Fahrrad per Motorrad transportieren konntest.“
„Wieso per Motorrad? Ich war wie jeden Morgen joggen und kam von da hinten über einen Wanderweg auf die Straße. Ich sehe das Fahrrad liegen und denke, da ist jemand gestürzt, hat sich verletzt und von einem Autofahrer mitnehmen lassen, der das Rad nicht transportieren konnte. Also hab ich es zum Haus geschoben und in der Garage abgestellt, damit nichts wegkommt.“
„Aber...“
„Schau mal hoch, Nelli. Zwischen deiner tatsächlichen Unfallstelle und dem Fundort des Fahrrades liegen 20 Meter. Ich dachte, dass der Unfall hier unten passiert ist, und deshalb hab ich nicht nach oben geschaut.“
„Na gut.“
„Jetzt zeig mir mal, wo du zu dir gekommen bist.“
Gedankenverloren gab Nelli ihm eine der Taschenlampen, klickte ihre an und kletterte voran - von der Straße über den Graben in Richtung des Felsens, von dem aus sie sich am Morgen Übersicht verschafft hatte. Der Motorradscheinwerfer leuchtete das Gelände im Ganzen aus, aber für die Spalten und die Schatten hinter den Steinbrocken brauchte man die Taschenlampen. Sie waren kaum zwei, drei Meter aufgestiegen, da sah Nelli halb unter einen überhängenden Felsen gerutscht das bekannte grün-rote Muster, bückte sich und zog ihr Tagebuch hervor.
„Ist es das?“, fragte Andi unnötigerweise, und Nellis verblüfft-erfreutes Gesicht genügte ihm als Antwort. Er nickte lächelnd.
„Na also.“
„Kaum zu glauben, dass ich das heute Früh bei vollem Tageslicht übersehen habe.“
„Hattest du dir nicht den Kopf angeschlagen?“
„Ja, aber ich hab gründlich gesucht.“
„Nach dem Fahrrad, nicht nach Einzelteilen.“
„Schon klar. Egal, Hauptsache ich hab es wieder. Dank dir.“
„Nichts zu danken.“
Sie stiegen die paar Meter zur Straße ab und löschten die Taschenlampen.
„Ich fahr langsamer, okay?“
„Okay.“
Er schwang sich auf den Sattel, startete den Motor, und Nelli kletterte wieder hinten drauf. Ihr Tagebuch klemmte sie sich fest unter den Hintern.
Andi hielt Wort. Er gab behutsam Gas, fuhr in langsamen Bögen durch die Serpentinen, und Nelli schöpfte neuen Mut.
Als sie am Haus ankamen, hielt er vor der Garage, klappte den Ständer aus und ließ den Motor laufen, während er eines der Tore aufsperrte und hochschob. Er stieg wieder auf, legte den Gang ein und
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