In eisigen Kerkern (German Edition)
Gras und holte das Zelt aus seiner Schutzhülle. Während sie es aufbaute, lauschte sie aufmerksam in Richtung Straße, um Andis Abgang nicht zu verpassen. Nur: Wenn der auch hier im Dorf wohnte, warum ließ sich Gerda dann abholen und kam nicht mit ihm herunter?
Kann mir doch egal sein, dachte Nelli, und richtete ihr Zelt auf. Sie rollte die Isoliermatte darin aus, breitete den Schlafsack darüber und machte sich an ihre Essenstasche. Sie hatte Lust auf Ravioli. Eine Dose davon musste noch irgendwo sein, und da war sie auch. Als Vorspeise zog sie ihre letzte Bifi hervor, fand noch zwei Scheiben Brot in Alufolie gewickelt und hockte sich damit auf ihren kleinen Camping-Stuhl.
„Hatte heute den ersten Unfall der ganzen Reise, und das kurz vor der Heimkehr nach all den Jahren. Es war, als hätte das Schicksal, das ich mir beim Aufbruch selbst zugedacht hatte, mich nun doch noch einholen wollen.“
Mit diesen Sätzen wollte sie ihren Tagebuch-Eintrag beginnen. Sie biss in die Mini-Salami und in eine der Brotscheiben und reckte sich nach den Packtaschen. Ohne hinzuschauen angelte sie zwischen ihrer Unterwäsche nach dem Tagebuch, ertastete die Schutzhülle – und zog sie leer hervor.
Ein erster Schreck.
Konnte das Buch herausgerutscht sein, so fest wie es da immer drin steckte?
Sie legte Wurst und Brot beiseite und kramte in der Tasche herum. Ein Schwall Blut schoss ihr heiß ins Gesicht. Was nicht sein durfte, das konnte nicht sein! Deshalb wühlte sie sich auch durch alle anderen Taschen, obwohl ihr klar war: Jemand hatte sich das Tagebuch unter den Nagel gerissen, und dieser Jemand konnte nur Andi gewesen sein. Womöglich studierte er gerade in diesem Augenblick genüsslich ihre intimen Eintragungen. Ihr wertvollster Besitz – war verloren.
„So ein verdammter Mistkerl!“
Nelli flüsterte es immer wieder, spürte alle Kraft aus ihrem Körper weichen und kam sich verloren und völlig deplatziert vor.
Was sollte sie hier übernachten? So weitermachen wie geplant? Undenkbar! Sie musste das Tagebuch wiederbekommen.
Aber umkehren? Ebenso undenkbar. Den ganzen Weg wieder hoch, über 1.500 Höhenmeter, und dann mitten in der Nacht mutterseelenallein auf diesen Fahrrad- und Tagebuchdieb treffen?
Was sonst? Zur Polizei? Frühestens morgen, frühestens in der nächsten Stadt, und dann? Fraglich, ob die Beamten wegen eines gestohlenen Fahrrads samt Gepäck besonders aktiv geworden wären – wegen des Tagebuchs allein war eine Ermittlung wohl ausgeschlossen.
Konnte sie die Reise aus der Erinnerung rekonstruieren?
Nelli prüfte diese Möglichkeit ganz ernsthaft. Unterwegs hatte sie oft in Jahre zurückliegenden Passagen gelesen, und alles war dabei so detailliert in ihrer Erinnerung aufgetaucht als sei nicht die kleinste Kleinigkeit vergessen. Aber eben nur, wenn sie in ihren Notizen las. All die zigtausend Erlebnisse, Begegnungen und Gedanken dazu ließen sich niemals so lebendig und unmittelbar zurückholen wie sie aufgezeichnet in ihrem Buch standen.
Sie musste es zurückbekommen. Sie musste umkehren.
Derweil sie noch darüber nachdachte, ob es nicht besser sei, doch hier unten zu übernachten und am nächsten Morgen noch mal hochzufahren, fing sie schon an, das Zelt auszuräumen. Denn so funktionierte es nicht. Morgen Vormittag nämlich, im Alltagsbetrieb der Wirtsstube, würde Andi die gleiche Nummer abziehen wie heute mit ihrem Fahrrad.
Sie rollte Isoliermatte und Schlafsack zusammen, zerlegte hektisch die Zeltstangen, stopfte das Zelt, schlampig zusammengelegt, mit Mühe und Not in die Schutzhülle und kaute dabei den letzten Bissen Bifi. Die fettige Wurst begann im Magen zu drücken. Fahrrad aufstellen, Packtaschen drauf, alles irgendwie zusammenzurren.
Nelli hatte das Gefühl, in den Krieg zu ziehen. Was sie vorhatte, war Wahnsinn. Aber es war der einzige Ausweg. Sie musste ihr Tagebuch zurückbekommen, sonst konnte sie gleich wieder umkehren Richtung Südtirol, Italien, Frankreich, Spanien, Afrika und ihr Leben verradeln. Ohne ihr Tagebuch hatte sie nichts, und nur wenn sie umkehrte, hatte sie eine winzige Chance, es zurückzubekommen. Diesem Andi ging es doch nicht darum, sie zu bestehlen. Der wollte was anderes.
Eben, du blöde Kuh! Genau das war es ja, was die Sache so gefährlich machte.
Oder auch nicht. Vielleicht wollte er sich nur beim Lesen von Frauen-Geheimnissen ein bisschen aufgeilen, und danach warf er das Buch sowieso weg. Wenn sie ihn direkt darauf ansprach, war er vielleicht so
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