In eisigen Kerkern (German Edition)
Angriffslust ging mit ihr durch.
„Tu doch nicht so! Du weißt genau, warum ich hier bin.“
Andi blieb freundlich und gelassen.
„Eigentlich weiß ich das nicht. Wo ist überhaupt dein Fahrrad?“
Er kam ein paar Schritte auf sie zu. Nelli wich zur hintersten Wand zurück.
„Was ist denn los? Hast du etwa Angst vor mir?“
„Nein.“
„Also, jetzt sag schon: Was ist los?“
„Na, was wohl?! Mein Tagebuch ist weg.“
„Du hast doch vor dem Losfahren deine Sachen überprüft.“
„Ich hab nicht in die Schutzhülle geschaut. Erst unten fiel mir auf, dass sie leer ist.“
„Unten im Dorf?“
„Fast.“
„Und da kommst du die ganze Strecke wieder hoch, nur wegen eines Tagebuchs?“
Er wirkte erstaunt. Ein derart verblüfftes Gesicht konnte man doch nicht vortäuschen, oder? Nelli entspannte sich.
„Das ist nicht irgendein Tagebuch. Das ist... ach, das verstehst du sowieso nicht.“
„Vielleicht ist es rausgeschleudert worden.“
„Was?“
„Bei deinem Unfall.“
„Nein, völlig unmöglich. Die Tasche war fest verschlossen, und die Schutzhülle steckte zwischen meinen Sachen mit der Öffnung nach unten.“
„Ist das so eine Art Buchdeckel?“
„Ja, wieso?“
„Weil ich den in die Tasche gesteckt und sie dann zugemacht habe.“
„Ich versteh nicht ganz...“
„Die eine Tasche war offen und ein Teil des Inhaltes verstreut. Ich bin mir sicher, das Buch liegt noch da oben am Pass.“
Nelli stellte sich vor, wie er die leere Schutzhülle zwischen ihre Unterwäsche steckte, während sie bewusstlos zwischen den Felsen lag. Ausgerechnet dorthin, wo sie hingehörte, und alles so, wie sie selbst es zu packen pflegte.
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Was?“
„Das ist völlig ausgeschlossen.“
„Dann lass uns doch nachsehen.“
„Wo?“
„Oben, an der Unfallstelle.“
„Jetzt? Es ist stockdunkel.“
„Ich hab Taschenlampen.“
„Das ist doch absurd.“
„Oder du übernachtest hier, und wir fahren morgen Früh hoch. Du kannst auch allein suchen, wenn du mich nicht dabei haben willst.“
Nelli schaute ihn zweifelnd an und fuhr sich gedankenverloren durch die Haare. Eklig, wie das klebte.
Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Wenn er vorhätte, ihr Gewalt anzutun, dann doch hier und nicht da oben zwischen Felsen, Schnee und Eis.
„Und du hast es ganz sicher nicht hier?“
„Nein, ich schwör’s. Was soll ich denn auch damit?“
Er zog den bekannten Schlüsselbund aus seiner Jeanstasche.
„Was hast du vor?“
Er deutete mit einem der Schlüssel auf die Wirtsstube.
„Taschenlampen holen.“
Er lächelte und sperrte die Tür auf. Es war seltsam, die Wirtsstube bei Dunkelheit wieder zu betreten. Der Raum war so still und verlassen als sei nie ein Mensch hier gewesen.
Andi machte sich hinter der Theke zu schaffen.
„Sag mal, warum ist die Haustür eigentlich nachts unverschlossen.“
„Für den Fall, dass jemand hier oben in schlechtes Wetter gerät. Das ist vor allem auch ein Schutzhaus, weißt du.“
Er zog zwei schwarze Stabtaschenlampen, wuchtig wie Scheinwerfer, aus einer der Schubladen.
„Wo warst du überhaupt?“
„Wann?“
„Na gerade eben. Wo kurvst du denn nachts mit dem Motorrad herum?“
„Denkst du, ich sitze immer nur allein hier oben herum? Mit dem Bike bin ich in 35 Minuten unten im Tal, wenn ich mal unter Leute will.“
„Aber dann hättest du mich doch überholen müssen.“
„Es gibt zwei Wege ins Tal.“
„Du meinst, über den Pass?“
„Na klar. Du stellst ganz schön viele Fragen.“
Sie verließen die Stube. Andi sperrte wieder sorgfältig ab.
„Und warum warst du unten?“
Er gab ihr die Taschenlampen und hielt ihr die Haustür auf.
„Ich hab einen der Wanderer abgeliefert. Von der Berliner Gruppe, die von deinem Auftreten übrigens sehr irritiert war.“
„Tut mir leid. Was war denn los mit dem Wanderer?“
„Dem ging’s nicht gut, hatte Durchfall. Ich hab ihn zum Arzt gebracht.“
„Komisch, ich kann mich an keinen erinnern, der krank aussah. Wo ist übrigens der zweite Helm?“
Andi war schon aufgestiegen und wuchtete die Maschine vom Ständer.
„Brauchst du doch nicht für die paar Meter.“
„Aber der kranke Wanderer. Warum habt ihr denn kein Auto genommen in seinem Zustand?“
„Weil ich kein Auto habe.“
„Und was ist mit dem Laster?“
„Mit dem Motorrad geht es schneller. Und kostet weniger Sprit.“
Nelli stieg auf, beugte sich vor und umfasste, die Taschenlampen an
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