In eisigen Kerkern (German Edition)
beschämt, dass er es herausrückte, und dann Schwamm drüber.
Der Diebstahl konnte aber auch nur den einen Zweck haben, sie zurück und in die Falle zu locken.
Dann klopfte sie eben nicht an der Tür, sondern brach ein und holte sich das Buch, wenn er schlief.
Grandiose Idee, dann hatte er gleich einen Grund, über sie herzufallen, wenn er sie erwischte...
In Nellis Gedanken ging es drunter und drüber, während sie das Fahrrad über die Wiese zurück zur Straße schob, Schwung holte, aufstieg und die ersten Meter gegen die Steigung antrat.
Wie immer tat ihr das Radeln sofort gut. Die gleichförmige Bewegung lenkte ab, ließ die Gedanken zur Ruhe kommen und ausklingen, der Kopf wurde leer und frei für neue Ideen.
Als sie aber, Stunden später, sich keuchend und durchgeschwitzt um die letzte Kurve kämpfte und die Silhouette des Unterkunftshauses im Mondlicht vor sich liegen sah, war da nur noch der Gedanke, schnellstmöglich umzukehren und auf das Tagebuch zu pfeifen. Nie hatte sie sich so allein, auf sich gestellt und verlassen gefühlt, so schwach und chancenlos. Was ihr Herz so rasen und gegen die Rippen klopfen ließ, war nicht nur die Anstrengung, sondern auch nackte Angst.
Halb hinter der Felsnase verborgen, blieb Nelli stehen, stieg ab und lehnte das Fahrrad an. Weder im noch am Haus brannte Licht. Der Parkplatz war verwaist.
„Also übernachtet er doch im Tal“, flüsterte sie.
Und dachte sofort: Aber dann wäre er mir doch entgegengekommen. Vielleicht hatte er in Gerdas Polo auf dem Rücksitz gesessen? Nein. Schlief er womöglich schon? Aber es war höchstens kurz vor zehn. Oder er wohnte auf der anderen Seite des Passes.
Seine mutmaßliche Abwesenheit eröffnete ihr eine ganz neue Option: Sie konnte ins Haus einbrechen, das Tagebuch suchen, und falls es nicht zu finden war, etwas Wertvolles aus Andis Besitz stehlen und es am nächsten Morgen, im Schutz des Wirtshausbetriebes, gegen ihr Tagebuch eintauschen.
Sie drehte ihr Fahrrad für alle Fälle fluchtbereit talwärts. Hier im Mondschatten war das Rad nur zu sehen, wenn man wusste, dass es da lehnte.
Sie drückte sich an der Felswand entlang so nah zum Haus wie möglich, löste sich dann aus dem Schatten und rannte auf Zehenspitzen zur Garage.
An die Wand gepresst, verharrte sie und lauschte. Noch immer kein Geräusch. Tatsächlich kein Licht im Haus, auch nicht hinten raus. Also weiter.
Sie spähte eher beiläufig durchs Fenster in die Garage. Das Motorrad fehlte. Passte zu ihm, dass er damit unterwegs war. Das war nun die letzte Sicherheit, die sie noch gebraucht hatte, um ihren Plan auszuführen. Er war nicht da, definitiv.
Was mochte einem Kerl wie ihm das Wichtigste auf der Welt sein? Sollte sie in die Garage einbrechen oder ins Haus? Er hatte sie nicht in der Garage haben wollen, als er ihr Fahrrad rausholte, sehr verdächtig. Aber im Haus wiederum gab es die Tür mit dem Schild „Privat“, was für Nelli so viel hieß wie „Geheim“. Hatte der Haustür nicht das Schloss gefehlt? Dann beging sie doch nicht mal Einbruch!
Ohne weiter nachzudenken, drückte sich Nelli am Fenster vorbei und an der Wand entlang Richtung Haus. Geduckt schlich sie zur Tür und fand sie tatsächlich nur angelehnt.
Immer auch an eine mögliche Falle denken, mahnte sie sich, um gleich darauf mit dem Gedanken an das fehlende Motorrad alle Ängste beiseite zu wischen.
Ein Rest Mondlicht, das durch die offene Tür in den Flur fiel, wies Nelli den Weg zur Wirtsstube. Sie wähnte sich siegesgewiss – bis sie die Sicherheitsschlösser an dieser und der Privat-Tür sah.
Die waren nicht zu knacken.
Weitere Türen gab es nicht. Im Flur oder von den Toiletten war nichts von Wert zu entwenden – Feierabend.
Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig als ein Fenster einzuwerfen.
Nelli hatte den Haustürgriff schon in der Hand, da hörte sie draußen eine Art Summen und sah ein Licht. Sie verharrte und lauschte. Aus dem Summen wurde ein knatterndes Röhren. Das Licht strahlte blendend hell auf.
Sie schaffte vier, fünf Schritte zurück in den Flur, da wurde die Tür schon aufgestoßen. Vor ihr stand ein Kerl in Lederkluft, nahm sich, im Eingang verharrend, den Helm vom Kopf, und darunter kam Andis Gesicht zum Vorschein. Er schüttelte die langen Haare und grinste scheinbar verblüfft.
„Nelli, also das ist ja eine Überraschung!“
Kaum stand sie der Gefahr gegenüber, vor der sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte, wich die Angst, und die
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