In eisigen Kerkern (German Edition)
ließ das Zweirad einen laut heulenden Satz durchs Tor machen.
Nelli wäre am liebsten zu ihrem Fahrrad geschlichen, aufgesprungen und ab durch die Mitte. Bis er es gemerkt hätte, wäre sie schon in der Dunkelheit verschwunden. Sie hatte doch jetzt alles, was sie wollte, pfeif auf Konventionen - aber die Hemmung davor, grußlos zu verschwinden, war einfach zu groß. Er kam auf sie zu und blieb im Garagentor stehen.
„Wo ist denn nun dein Fahrrad“, fragte er.
„Gleich da drüben an der Felswand.“
Er schaute in die Richtung, in die sie deutete.
„Also dann, Andi, dank dir für alles.“
Sie streckte ihm die Hand entgegen.
„Wieso?“
Er machte keine Anstalten, ihr seine Hand zu geben. Sie wurde unsicher und ließ ihren Arm sinken.
„Na, dann.“
„Willst du dein Fahrrad nicht die Nacht über in die Garage stellen? Man weiß nie...“
„Was? Nein, ich fahr ja gleich los.“
„Ausgeschlossen!“
Der entschiedene Ton und seine Haltung, hoch aufgerichtet im Garagentor stehend, ließen Nelli wieder nervös werden.
„Wie bitte?“
„Du kannst jetzt nicht ins Tal fahren.“
„Wieso nicht?“
„Viel zu gefährlich. Der Pass ist nicht ohne Grund nachts gesperrt.“
Er kam einen Schritt auf sie zu, und Nelli wich einen Schritt zurück.
„Kein Problem, ich meine, was soll schon passieren.“
„Nelli, die Straße ist nicht befestigt. Es sind hier nachts zig Fahrzeuge abgestürzt, bis sie den Pass schließlich gesperrt haben. Es wird sogar diskutiert, hier oben ganz dicht zu machen.“
„Dann fahr ich eben ganz langsam. Ich komm schon zurecht.“
„Ich hab ein Gästezimmer für dich, verschließbar, wenn du willst.“
„Danke, aber...“
„Du könntest baden, dich satt essen und dich mal so richtig ausschlafen.“
„Na ja, also...“
„Klingt das nicht besser als in stockdunkler Nacht und Eiseskälte eine solche Strecke zu fahren und dann irgendwo ein Zelt aufzubauen?“
„Zugegeben, das klingt verlockend, aber weißt du, ich hab heute einen vollen Tag verloren, und...“
„Bist du denn so in Eile?“
„Das nicht, aber...“
„Oder hast du immer noch Angst vor mir?“
Nelli räusperte sich, straffte sich und schaute ihm fest ins Gesicht.
„Weißt du, Andi, mir wäre einfach wohler, wenn ich jetzt weiterfahre.“
Er starrte ihr ausdruckslos ins Gesicht, fünf Sekunden, zehn Sekunden; dann zuckte er die Schultern und drehte sich um.
„Also gut, wie du willst.“
Er zog das Tor herunter und versperrte es.
Nelli ging langsam zu ihrem Fahrrad und hörte, wie er ihr hinterher kam. Erleichtert erkannte sie die Form ihres Reisegefährts als Schemen vor den schwarzen Felsen. Aber irgendwas war anders.
„Ach verdammt!“
„Was ist denn?“
Nelli deutete auf ihr Vorderrad und drehte sich zu ihm um. Andi ging an ihr vorbei und prüfte mit einem kurzen Daumendruck den Reifen.
„Du hast einen Platten.“
„Auch das noch.“
„Das war’s dann wohl.“
„Nichts da!“
Sie öffnete die linke Packtasche, steckte ihr Tagebuch fest hinein, zog dann den Reißverschluss ihrer Werkzeugtasche auf und holte Schraubenschlüssel und Flickzeug hervor.
„Du willst doch nicht etwa jetzt erst noch das Reparieren anfangen?“
„Genau das will ich. Es ist ja nur der Vorderreifen.“
„Du spinnst!“
Es klang anerkennend, und Nelli fühlte sich ein bisschen geschmeichelt.
„Das ist eines der Standardprobleme bei einer Fahrrad-Weltreise“, dozierte sie, während sie schon anfing, die Muttern an der Vordergabel zu lösen. „Früher wusste ich nicht mal, was ein Schraubenschlüssel ist, aber inzwischen schaffe ich das in weniger als vier Minuten. Kannst mitstoppen, wenn du willst.“
„Soll ich nicht wenigstens die Taschenlampen holen?“
„Nicht nötig. Ich kann das zur Not auch mit verbundenen Augen.“
Sie grinste ihn an.
„Kann ich dir sonst irgendwie helfen?“
„Nein, ich hab alles im Griff.“
„Na gut.“
Er ging um das Fahrrad herum zu den Packtaschen. Nelli registrierte es mit einem kurzen Blick und schraubte dabei weiter.
„Und du hast wirklich die Welt umrundet?“
„Ich war auf allen Kontinenten. Kreuz und quer.“
„Unglaublich. Was du alles erlebt haben musst.“
„Oh, ja.“
„War sicher oft auch gefährlich.“
„Manchmal war’s auch ganz schön knapp, ja.“
Ihre Reise, ihr Fahrrad, mit Werkzeug und gewohnten Handgriffen zugange - Nelli war in ihrem Element. Sie fühlte sich zunehmend sicher. Bis Andi mit einer schnellen Handbewegung
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